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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 24.1913

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Mhe, Herbert: Die neue Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4432#0239

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DIE NEUE KUNST
VON HERBERT MHE.

WIR stehen ohne Zweifel an einem neuen Wende-
punkt der Kunst, richtiger, wir haben ihn bereits über-
schritten. Jene berühmte, schon ein bißchen sagen-
hafte Zeit der Anfänge Manets, der leidenschaft-
lichen Kämpfe der Impressionisten, findet ihre Erneuerung
in unseren Tagen; eine höchst interessante Parallele zu
jenen vergangenen Zeiten künstlerischen Ringens ist im
Begriff sich zu vollziehen. Auch die Art, wie sich die Kreise
ideeller Geistesrichtung zu diesem anwachsenden Neuen
verhalten, hat fast die gleichen leidenschaftlichen Symptome
wie ehemals. Es fehlt auch heute nicht an Beschimpfungen,
an ekstatischen Manifesten; vielleicht gehen die jungen
Künstler der neuen Bewegung — an der Wirkung sozialer
Massenorganisationen, mechanistischer Reklameunter-
nehmungen belehrt — sogar weit geschlossener und be-
wußter vor, als Manet und sein Kreis es taten. Unter der
Kritik hält sich die beste im allgemeinen in den vornehmen
Grenzen des gelassenen Ignorierens; der sekundäre Kunst-
schriftsteller nimmt Stellung ohne ernste, überzeugende
Haltung. Der Laie wird hin- und hergezerrt unter den
heftigsten Meinungsverschiedenheiten, oder gerät in »tote
Löcher« eines krampfhaften Nichtwissenwollens. □
d Versuchen wir doch einmal, so weit es die Unvoll-
kommenheitlogischen und objektiven menschlichen Denkens
zuläßt, für einige Zeit die Distanz einer sachlichen histori-
schen Betrachtung anzunehmen, wenn wir auch noch mitten
in dem Auf und Ab des nächsten Geschehens uns befinden.
Betrachten wir, so subjektiv uninteressiert es geht, einmal
die ganze Sachlage; die schöne, persönlichste Anschauung,
die sicherlich allein den künstlerischen Genuß (nicht not-
wendig auch Verständnis) vermittelt, wird sich schon zu
ihren Rechten im gegebenen Augenblick zurückzufinden
wissen; nicht ohne jedoch aus jener einmal beobachteten
Objektivität eine reine und klare Bereicherung empfangen
zu haben. Wie sich denn wohl das menschliche Urteil
überhaupt nur durch klug beobachtetes zeitweiliges Be-
freien von allem Subjektiven, an sich edlen und reinen
Begrenzungen und Befangenheiten des Ich, zu immer har-
monischerem Betrachten der Umwelt und des Lebens er-
zieht. n
□ Es scheint uns zweifellos, daß mit dem Impressionis-
mus eine ganz neue Epoche der Kunst begonnen hat;
eine Epoche, die, in genialen Geistern vorgeahnt, dennoch
in dieser ihrer Geschlossenheit so bisher in der Geschichte
nicht aufgetreten ist. Der Impressionismus trägt seine neue
Idee in dem unpersönlichen, unmittelbaren Verhältnis zur
Natur, in dem intuitiven Eindruck der Natur auf die mensch-
liche Psyche, ohne Gesetze des Rhythmus und der Kom-
position, wie die Konvention sie vorher besaß, zu berück-
sichtigen. Der Impressionist kümmert sich nicht um die
Logik des Bildes zur Wand, um den Einfluß des Aus-
schnittes, sondern will nur den »coin de la nature vu par
un temperament« schaffen! □
o Der Impressionismus ist ein neues künstlerisches Er-
leben der Umwelt, und er betätigt sich ganz natürlich mit
der unbefangenen eindringlichsten Betrachtung des Gegen-
ständlichen, ohne freilich zu ahnen, daß dieses nur der
erste Schritt des neuen latenten Kunstgefühles ist, dem der
zweite und dritte folgen muß. Ohne zu bemerken, daß
die Identifizierung seiner Betrachtungsweise mit einer neuen
Kunstentwickelung die letztere begrenzt, sie auf die An-
schauung eines Anfangsstadiums beschränkt und ihren
weiteren Umfang nicht zuläßt. Anders ausgedrückt: der
Impressionismus ist nicht selbst eine neue Kunstanschauung,
sondern nur ein Gedanke, eine These einer neugeborenen
Kunstempfindung, der die Antithese folgen muß (und be-
reits folgt!) um sich zur reinen Synthesis zu schließen. □

n Langsam hat sich der Impressionismus zu seiner Anti-
these entwickelt. Von Manets optischer Betrachtung, von
Monet, Sisley, Pissarro und Renoir ging es zu Cezanne
und van Goghs reiner, »abstrakter« Farbschöpfung, zu
Matisse und Picassso und jenen zahlreichen jungen
Künstlern, die heute antithetisch gegen den Impressionis-
mus kämpfen. □
a Sie nennen sich Anhänger des Expressionismus; — ein
künstliches Wort, ein Schlagwort, wie auch Impressionis-
mus, nur zum »katalogisieren« gut, und sinnfällig im gegen-
sätzlichen Bezeichnen. □
□ Worin besteht nun, ist die Frage, das antithetische
Moment des Expressionismus (worunter auch Kubismus
usw. verstanden ist) zum Impressionismus?! Und worin
liegen die psychologischen Bedingungen dieser Ent-
wickelung?! □
□ Im »Sturm« hat A. R. Schönlank seinerzeit eine gute
Formel für das antithetische Verhältnis von Impressionis-
mus und Expressionismus gegeben: beim Impressionismus
herrsche unpersönliche Hingabe und persönliche Wieder-
gabe, beim Expressionismus persönliche Hingabe und un-
persönliche Wiedergabe. Das bedeutet mit anderen Worten:
die expressionistische Bewußtheit, Apperzeption — zur
Unbewußtheit der impressionistischen Intention. Nehmen
wir das etwas allgemeiner, so ist die Bewußtheit intellektuell,
abstrakt, ist Apperzeption Wille zum Stil! □
d Wilhelm Worringer hat in seinen beiden hervorragenden
Werken »Abstraktion und Einführung« und »Formprobleme
der Gotik« die Widerstrebung zwischen Stil und Naturalis-
mus, was auch seit Manet Impressionismus und Expressio-
nismus heißen darf, erklärt. □
□ Er sagt: ». . . diese Momente (des Entorganisierungs-
bediirfnisses der Emanzipation von aller Zufälligkeit des
Weltbildes usw.) diese Momente . . . des Abstraktions-
bedürfnisses will unsere Definition unter dem Begriff Stil
zusammenfassen, und als solchen dem aus dem Einfühlungs-
bedürfnisse resultierenden Naturalismus gegenüberstellen.
Denn Einfühlungsbedürfnis und Abstraktionsbedürfnis fan-
den wir als die zwei Pole menschlichen Kunstempfindens,
soweit es rein ästhetischer Würdigung zugänglich ist. Es
sind Gegensätze, die sich im Prinzip ausschließen. In
Wirklichkeit aber stellt die Kunstgeschichte eine unauf-
hörliche Auseinandersetzung beider Tendenzen dar.« a
□ Der Expressionismus sucht also den Stil. Er berück-
sichtigt alles das, was der Impressionismus vernachlässigte:
die Komposition, den Rhythmus, die Psychologie der Farbe
und der Linie; er sieht auch vor allem wieder die Logik
des Bildes zur Wand. □
□ Es ist sehr bedeutsam, daß dem Expressionismus die
Lösung seiner Stil-Suche zuerst im Monumentalen durch
Hodler gelang. Schnell ist er auch im Glasgemälde (Thorn-
Rrikker) und in der Wanddekoration (Pechstein) zu einem
Abschluß gekommen. Nur das Tafelbild fand noch keine
überzeugende stilistische Lösung; besitzen wir, wenn der
Vergleich einmal erlaubt ist, in Hodler einen Giotto,
so fehlt uns noch der Cimabue des Tafelbildes. Picasso
hat in ungelösten (obgleich köstlichen) Bildern seiner
»blauen Periode« den Stil des Tafelbildes gesucht, und
hat sich schließlich in die tiefe und sehr schöne, wenn auch
künstlerisch doch undiskutierbare Theorie des Kubismus
geflüchtigt. □
□ Zur psychologisch-ästhetischen Erklärung dieser Tat-
sache, die zugleich eine Erklärung der Entwickelung des
Expressionismus aus dem Impressionismus ist, hat wieder
Worringer, ohne zwar an diese Aktualität zu denken, in
seinem Buch »Abstraktion und . Einfühlung« einen sehr
klaren Gedanken gegeben. d
 
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