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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

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Englische Betrachtungen über das Wiederaufblühen des Handwerks
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https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0020

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ENGLISCHE BETRACHTUNGEN ÜBER
DAS WIEDERAUFBLÜHEN DES HANDWERKS

DER »Manchester Guardian« schreibt: Bis zur Mitte
des 18. Jahrhunderts befanden sich Kunst, Hand-
werk und Industrie in ständiger Fortentwicklung.
Die Produktion war weniger zentralisiert, sie war örtlich
beschränkt und Gemeingut. Spitalfields, Worcester, Derby,
Worstead, Witney und Sheffield waren nur besondere
Richtungen in der Entwicklung einer allgemein verbreiteten
schöpferischen Betätigung. Jede Stadt, jedes Dorf sogar,
hatten ihre Handwerker, ihre örtlichen Künstler, die ihre
landwirtschaftlichen Kenntnisse mit denen ihres Handwerks
vereinigten. Diese Leute und ihre Nachkommen waren
die Glieder in der Kette, die uns mit den früheren und
mittelalterlichen Zeiten verbindet. Sie waren die Nach-
folger derjenigen, die nach dem Verschwinden der Hand-
werkergilden sich in den Städten und Dörfern ansiedelten.
Sie hüteten eifersüchtig dort ihre alten Überlieferungen und
ihre Handwerksgeheimnisse, die sie dann ihren Lehrlingen
vermachten.

Von Zeit zu Zeit wurden ihre Reihen durch den Zu-
fluß anderer Handwerker von auswärts verstärkt. Dieser
Zufluß wurde zeitweilig zu einer Flut, als die Gewand-
schneider infolge der Schlächtereien Albas aus Holland
nach England flohen, und als, um der tyrannischen Regie-
rung Ludwigs IV. zu entgehen, die Seiden- und Leinen-
weber, die Papiermacher, Uhrenmacher, Juweliere, Optiker,
Glas- und Metallarbeiter aus Frankreich nach England ent-
flohen, — ein Stück Geschichte, das sich heute tragisch
wiederholt. Alles einigte sich zur Förderung und Berei-
cherung der englischen Industrie, bis das 18. Jahrhundert
eine enorme Ausdehnung des Handels sah. Bis zu dieser
Zeit beschränkte sich die englische Industrie, vielleicht mit
Ausnahme der Textil- und Eisenindustrie, auf kleine Werk-
stätten, auf unzählige zerstreute Produktionszentren. Die
meisten Arbeiter besaßen ein kleines Stück Land, einige
hatten sogar kleine Höfe und teilten ihre Arbeit zwischen
Ackerbau und Industrie. Aber mit der Ausdehnung des
Handels, und vielleicht gerade deswegen, begannen neue
Arten der Gütererzeugung und Güterverteilung.

Die Schwierigkeiten im Ein- und Verkauf, die Käufer und
Verkäufer fühlen, standen nicht, wie sie glaubten, im Zusam-
menhange mit der Art der Gütererzeugung. Sie entstanden
vielmehr, weil die Verkehrsverhältnisse noch nicht genügend
entwickelt waren. Infolgedessen war auch der Verkehr
zwischen Kaufmann und Produzent nicht genügend ausge-
bildet. Zur Abstellung dieses Mißstandes griffen die Kaufleute
zu der Fortentwicklung der großen Fabrik als Konkurrenz
der kleinen Werkstatt. Und dann kam die Dampfkraft,
die die Produktion in noch größerem Umfange ermöglichte.
Indes fand man bald, daß gerade, obwohl die Fabriken
den doppelten Vorteil des direkten Verkehrs mit der Kund-
schaft und des Einkaufs der Rohstoffe im Großen hatten,
sie doch völlig von einer ständigen Hilfe durch billige
Arbeit abhängig waren. Die großen Umwälzungen in der
Landwirtschaft, die in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts
stattfanden, sahen diese billige Arbeit vor. Dann kamen
die schrecklichen Kriegsjahre, die Schwankungen in Handel
und Landwirtschaft, Hungersnot, Aufruhr und schließlich die
schlechten Arbeitsbedingungen, alles Dinge, die in nicht
mißzuverstehenden Worten in der Schlechtigder heutigen
gewerblichen Produktion in England ihren Ausdruck finden.
Doch in all diesem fürchterlichen Wirrwarr von Leiden
und sozialen wie politischen Unruhen erhoben sich drei
Stimmen: Carlyle, Ruskin und Morris, jede mit einer um-

fassenden Botschaft von Geist, Wissen und Klugheit. Sie
forderten alle, daß man das Handwerk wieder belebe und
damit sofort zur Tat schreite. Das Umsetzen in die Tat
war die Hauptbotschaft von Morris. Es war eine Anregung,
ein soziales Programm und zugleich eine Wiederbelebung
von Kunst nud Handwerk.

Wir kommen jetzt zu der am meisten überraschenden
Phase in der Entwicklung des Handwerks. Bald nach den
ersten Erfolgen von Morris' Vorbild wurde es klar, daß
die wachsamen Teutonen kamen, um zu forschen und über
das Neue nach Hause zu berichten. Sie sahen, daß in dem
Wiederbeleben der Handwerkskunst England eine goldene
Ader besaß. Sie sahen ebenso, was uns nur zu augen-
scheinlich war, daß unsere eigenen Beamten, Fabrikanten
und Kaufleute zu gleichgültig waren — oder sollen wir
sagen zu harmlos? — gegenüber dem Bestehen dieses mäch-
tigen Reichtums. Sofort kamen andere Vertreter, Künstler,
Kaufleute, Lehrer zu uns herüber, um zu studieren, zu
erforschen und zu lernen. Sie kauften Photographien,
Proben, Literatur, schickten Studenten in unsere Schulen
und Schüler zu unseren Handwerkern. Und niemals waren
Schüler so eifrig, wißbegierig und begeistert, sie wurden
nie müde und ihre Gedanken waren zahlreich wie der
Wüstensand. Die Behörden der großen deutschen und
österreichischen Städte luden uns ein, unsere Werke auf
ihre Ausstellungen zu schicken. Die Namen unserer Künstler,
die hier wenig bekannt waren, kannte drüben jedermann.
Jetzt natürlich werden sie dort Nebensache sein: das ist
eben das Schicksal des Krieges. Wenn diese Vertreter
dann nach Deutschland zurückkehrten, wurden sie vom
Staate in die Lehrstätten geschickt, um ihre Landsleute in
den englischen Methoden zu unterrichten, und der Besuch
dieser Kurse war sehr stark. Die Verbreitung des Gelernten
glich einer heilsamen Epidemie. Deutschland und Öster-
reich wandten unsere Grundsätze und Lehren mit äußerster
Anstrengung an. Kein geringer Teil ihrer jüngsten wunder-
baren Erfolge auf dem Gebiete des Handels gebührt ihrer
Wahrnehmung von dem Werte der Güte und des Hand-
werksmäßigen in der Arbeit. Hätten sie hieran allein fest-
gehalten, würde die Welt in weiteren zehn Jahren ihnen
gehört haben ohne Kampf.

Die Künstler, die diese Bewegung in Deutschland ein-
führten, sahen den Wert und die Lebenswahrheit der Lehren
von Morris und Crane und ihren Nachfolgern, sie gewannen
die Fabrikanten für sich und veranlaßten sie, Künstler zu
beschäftigen in einem Umfange, der zuvor nie erreicht ist,
die die Entwürfe zu ihren Erzeugnissen fertigten und deren
Herstellung leiten sollten. Sie gründeten den Deutschen
Werkbund, der jetzt vielleicht die größte und einflußreichste
Vereinigung des Kunstgewerbes in der ganzen Welt ist.
Seine Ziele sind nach der Satzung, die Güte der Güter-
erzeugung auf eine höhere Stufe zu heben und dadurch
den ganzen Weltmarkt zu erobern, besonders in der Möbel-,
schmückenden, Textil-, Glas-, Metall- und anderen Industrie,
und zwar ganz allein für die deutsche Arbeit. Alle Künstler-
vereinigungen in den beiden Kaiserreichen sind in dem
Vorstande vertreten. Alle bedeutendsten Fabrikanten in
jedem Industriezweige, der zur Kunst Beziehung hat (und
welche Industrie hätte sie nicht?) sind seine Mitglieder.
Die großen Dampferlinien unterstützen ihn, die größte
Elektrizitätsgesellschaft im Reiche steht hinter ihm. Die
führenden Staatsminister beider Reiche gehören ihm an und
fördern seine Zwecke, wie es nur deutsche Beamte können.

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