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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 1.1919/​20

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2. Juniheft
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Aus der Museums- und Sammlerwelt / Kunstausstellungen / Kunstauktionen / Die Newyorker Renoir-Fälschungen / Londoner Kunstschau / Schweizerische Kunstchronik / Aus dem Pariser Kunstleben / Abbau der Breslauer Denkmäler / Das Münzwesen von Danzig / Neue böhmische Kunstgläser / Ein Archiv des Krieges und der Revolution / Eine Gewerkschaft der Leipziger Künstler / Künstlerstipendien der Ernst Keil-Stiftung / Bibliographische und bibliophile Notizen / Neuerscheinungen des Büchermarktes
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https://doi.org/10.11588/diglit.27815#0411

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wo die Oberschicht nicht sehr breit und sehr tief ist, mehrere
„Gesellschaften“ mit- und nebeneinander gibt. Aber mag man
über die Begriffsbestimmung der „Gesellschaft“ auch streiten
können, im allgemeinen versteht man doch wohl, was gemeint
wurde, wenn von ihr als von der vornehmen Welt die Rede ist,
eben jener glänzendsten Spiegelung aus der Tiefe eines Volks-
lebens, in der sich beispielgebend dessen Lebensgewohnheiten
vorbilden. Aus derjenigen Geselligkeit, deren Gebräuche und
Sitten „tonangebend“ werden, entstehen auch die durcheinander-
gehenden Modeströmungen, deren eigentlicher Zusammenhang
recht eigentlich sich erst dem Rückblick späterer Zeiten, aus der
Betrachtung historischer Epochen erschließt, einer auch für den
Kunstsammler sehr bedeutungsvollen Betrachtung, weil sie ihn
auf die Bedingtheit alter Kunstwerke durch ihre Zeit verweist,
indem sie ihn über deren gesellschaftlichen Sinn unterrichtet,
dabei Ursachen und Wirkungen aufdeckend, die biswei'en durch-
aus nicht die gleichen sind, aus dessen aesthetische Ewigkeits-
werte abgeleitet zu werden pflegen.

Diese historischen und philosophischen Probleme in seiner
„Geschichte der Geselligkeit Europas“ er-
schöpfend zu behandeln, ist dem Freiherrn A. von Gleichen-
Rußwurm noch nicht gelungen und der Weltspiegel, den deren
sechs Bände (bisher erschienen bei Jullus Hoffmann-Stuttgart
Elegantiae, Geschichte der vornehmen Welt im Altertum; Der
Ritterspiegel, Geschichte der vornehmen Welt im romanischen
Mittelalter; Die gotische Welt, Sitten und Gebräuche im späten
Mittelalter; Das galante Europa, Geselligkeit der großen Welt
1600—1789; Geselligkeit, Sitten und Gebräuche der europäischen
Welt 1789—1900) ist doch nicht überall fein genug geschliffen,
um alles aufzufangen und in einem Brennpunkt zurückzustrahlen,
was das jeweilige Wesen der Geselligkeit nach seinen Ursachen
und Wirkungen zusammenfassen würde. In den Einzelheiten ge-
legentlich irrend, in der Anlage des Ganzen die bequeme
Alteitum-Mittelalter-Neuzeit Einteilung nicht verschmähend, die
aristokratische Idee als eine politische nicht immer reinlich
von ihren sozialen Bedeutungen trennend, ist dem Verfasser
kein ganz gleichmäßiges Werk gelungen. Aber den gleichen
Mängeln stehen doch auch nicht geringe Vorzüge gegenüber,
nicht zum wenigsten dieser, daß hier überhaupt einmal der Ver-
such gemacht worden ist, wenn auch vorläufig nur in ihren
äußeren Zusammenhängen Zustandsschilderungen aneinander zu
reihen, die die Entwicklung des guten Tones übersehen lassen.
Anstand und Sitte ist kein zufälliges Wortpaar, die Wechselbe-
ziehungen zwischen beiden erschöpfen sich nicht durch ihre
Beobachtung und Bestimmung in einer jeweilig vornehmen Welt-
Aber die Äußerlichkeiten des Formenwesens erzeugen sich aus
der Geistesverfassung eines Volkes und deshalb kann eine kurze
Anekdote recht oft eine bessere Aufklärung geben als eine lang-
atmige Untersuchung. Anekdotographie ist nichts verächtliches und
wenn man sie versteht, wie etwa der Herzog von Saint-Simon,
wird sie sogar zu einer Beispielsammlung der Lebensweisheit
Und verwebe sie auch nur mit großen und kleinen Zügen den
Stoff zu einem Zeitbilde, wird dieses, einigermaßen fertigge-
worden, schätzenswert sein. Darum sei die elegante Essay-
sammlung nicht lediglich als eine angenehme, leichte Unterhaltung
begrüßt. Sie unterrichtet den Leser über vielerlei. Er muß sich
freilich nicht scheuen, selbst sich das Viel aus dem Vielen anzu-
eignen. Und er wird dankbar sein, wenn ihm dieser Hinweis,
jene Nachricht das Verständnis des gesellschaftlichen Formen-
wesens vergangener Tage erschließt, das nach seiner Gestaltung
und seinem Inhalt zu kennen, und sei es auch nur als ein
Kommentar der Realien, dem Kunstsammler notwendig ist.

Wie, immer von neuem bestritten, in den Bezirken einer
„Gesellschaft“ der Boden sich gründet, auf dem Kunstübung und
Kunstverstehen wachsen, auf dem die Blüte der Künste sich ent-
faltet nach den Nährkräften, und nicht allein nach den wirtschaft-
lichen Nährkräften, die er ihr spendete, so ist in den Bezirken der
Kunst, mögen deren Träger und Verkünder noch so sehr auf
ihre Unabhängigkeit von jedem anderen Weltgetriebe stolz sein
Wollen, die sie von den Nichtkünstlern unterscheidet, eine Boden-
frage, der die Antwort gefunden zu haben graue Theorien sich

freilich oft genug rühmte, niemals zur endgültigen Entscheidung
gebracht worden: die Frage nach der Abgrenzung der Kunst-
gattungen gegeneinander. Wo Dichtung aufhört, wo Malerei, wo
Musik anfängt, läßt sich eher durch ein aesthetisches Kompendium
als durch eine Kunstschöpfung beantworten und da Kunstwerke
bestehen, Lehrmeinungen vergehen, behält gegen den Gelehrten
der Künstler, vielleicht sogar wider seinen Willen, am Ende Recht.
Für die Buchkunst, als welche ebenso die Gestaltung eines
Geisteswerkes in seiner schriftlichen Aufzeichnung zur Buchform
wie deren äußere Vollendung gelten kann, zeigt sich das in den
Versuchen, mit allen künstlerischen Ausdrucksmitteln die Ver-
körperung eines Werkes im Buche zu erreichen. Der Autor wird
sein eigener Jllustrator und Komponist, der Maler setzt selbst
die Töne und Werte, die seine Bilder erklären und verbinden.
Beispiele dafür sind in nicht geringer Zahl vorhanden. Nur
an den aesthetisierenden Mystizismus eines William Blake (dessen
Drucke heute zu den hohen Liebhaberwerten des Büchermarktes
der englischsprechenden Länder gehören) sei erinnert, um anzu-
deuten, auf welchen buchgewerblichen Wegen man das Buch als
Gesamtkunstwerk ausdenken zu können meinte. Weit unbe-
fangener waren freilich dergleichen Bemühungen, wenn einen
bildenden Künstler sein episches oder lyrisches Talent verlockte,
gleichzeitig Feder und Griffel zu verwenden, zu schreiben und zu
zeichnen. Dabei kam dann wohl noch die Fähigkeit, anschaulich
zu beobachten und wiederzugeben, die ausgebildete malerische
Technik der Schriftstellerei zu Hilfe oder glich doch wenigstens
aus, was dieser an Schulung mangeln mochte und es entstanden
derart bisweilen recht anregende Bücher, freilich niemals große
Kunstwerke. Denn der Schriftsteller, der den Zeichner zu Hilfe
rufen will, der Zeichner, der sich von dem Schriftsteller unter-
stützen läßt, um etwas voll auszudrücken, das er auch in der ihm
eigentümlichen Kunstsprache noch verständlich zu machen ver-
stehen sollte, beweist sich damit als keinen Meister. (Etwas
anderes ist natürlich die Jllustration als Dokumentation und
Interpretation, die dem Aufbau eines Werkes in der Buchform
organisch eingegliedert wird.) Betrachtungen, die weiter auszu-
spinnen zwei eben erschienene Bücher, deren Verfasser Maler
sind, verlocken könnten, obschon gerade diese beiden Bücher
nicht zwei Kunstübungen miteinander verwechseln wollen.
Hans Baluschek’s Geschichtensammlung Enthüllte
Seelen (Hamburg und Berlin, Hoff mann & Campe: 1920),
Aufzeichnungen eines Lebensbetrachters, deren Lektüre allen,
die diesen Schilderer für einen Milieu-Realisten zu halten
wünschen, besonders zur Prüfung ihrer Meinung empfohlen sei,
ist sehr buchgerecht mit Titelblattvignetten verziert worden, in
denen der oder doch ein Grundton der ihnen folgenden Er-
zählung wiederklingt, wobei dann der bildende und der redende
Künstler sich abgelöst haben, zum Vorteil der Ausstattung des
Werkes. Dagegen verlangt der Band Schrecken. Novellen
und Federzeichnungen von Klaus Richter (Berlin,
Erich Reiss: 1919) nach der Forderung seines Titels als eine
Einheit aufgefaßt zu werden, Bild und Wort sollen sich hier er-
gänzen. Nun hat ein bildender Künstler zwar meist ein sehr
feines Gefühl für die innere Form eines Werkes, für das Ur-
element des Stils, den Rythmus, dagegen hält er in der Regel
von den literarischen Kunstfertigkeiten, vom Handwerk der
Schriftstellerei, weit weniger. Pflegt er seinen Stil, indem er ihn
zwingt, dann ließe sich Abhängigkeit von beispielgebenden Vor-
bildern ahnen. So könnten diese Novellen angeregt von Balzac,
von Barbey d’Aurevilly sein. Aber sie sind weit eher pittoreske
Phantasiespiele als psychologische Grotesken, ausgeführte
Stimmungsbilder oder Träumereien, deren Verdeutlichung in den
1917 entstandenen Federzeichnungen um vieles wahrscheinlicher
gelungen ist und bei denen Bild und Wort durchaus nicht immer
gleichartig zusammenklingen. Man wird das mit geschmack-
voller Sorgfalt ausgeführte Buch nicht so sehr des Dichters als
des Malers wegen, der aus ihm spricht, zur Hand nehmen.
Einen geistvollen Versuch wagten ein Griffelkünstler und ein
Schriftsteller, indem sie sich verbanden, um für die Macht des
ewigen Eros in der Musik künstlerisch zu zeugen. Beide ein-
ander durch ihre musikalische Empfindung verbunden (die der

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