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lobannes IDidmet’^Qenf
Unser ständiger Mitarbeiter Professor Dr. Johannes
Widmer bespricht im nachstehenden Aufsatz ein neues
Werk von Paul Qanz, das gewiß auch den Leserkreisen
des „Kunstwanderers“ willkommen ist.
j ie Schweiz ist von Historikern, von Naturwissen-
schaftern, von Soziologen erforscht und in um-
fassenden Werken beschrieben worden. Für das lite-
rarische Leben haben sich eine ganze Keihe von Ge-
samtdarstellungen ergeben. Nur mit der Kunst wollte
es nicht voran gehn. Zwar Vor- und Teilarbeiten gibt es
in Menge, ja sie sind so zahlreich, daß gerade ihre
Überfülle und Mannigfaltigkeit, dazu ihre Zerstreuung
über all die 22 Kantone ein großes Hindernis für eine
Schilderung des ganzen malerischen und bildnerischen
Schaffens ist. Aber nicht nur die vorhandene Literatur,
die Kunstwerke selbst sind weit mehr als anderswo ver-
teilt. Man braucht nur die von Pauli herausgegebenen
Reisebriefe Lichtwarks zu lesen, um zu sehen, in wel-
cher Weise er von den kleinen und großen Schweizer-
städten spricht, um nachzuerleben, wie er sich für Solo-
thurn, für Genf, für Zürich vom Standpunkte des Städte-
bauers, des Architekten, des Kunstfreundes, des Samm-
lers und des Museumsleiters interessiert, und entdeckt,
und schwärmt.
Seit wenigen jahren ist, was Lichtwark nicht mehr
erlebte, die Freude an der Tatsache des gemeinsamen
Kunstbesitzes in aer Schweiz lebhafter und allgemeiner
geworden; auch die Frage nacli den Merkmalen dieser
Gemeinsamkeit wird häufiger und gründlicher gestellt
und erörtert. Der Sache auf den Grund zu gehn, wur-
den mehrere Ausstellungen veranstaltet, deren kvich-
tigste die von der Zürcher Kunstgesellschaft zustande
gebrachte Schau alter Gemälde und Skulpturen (Herbst
1921) und die Pariser Ausstellung (1924) waren. Beide
sind im „Kunstwanderer“ gewürdigt worden.
Jetzt kommt das erste weitausgreifende Werk :;:)
heraus: „M a I e r e i a e r F r ü h r e n a i s s a n c e i n
d e r S c h w e i z“. Der Verfasser. der bekannte Hol-
beinforscher Paul G a n z , war der richtige Mann
dazu. Sein unablässiges Bemühen, für seinen Helden
das Milieu nachzuerschaffen, in dem er groß wurde und
von welchem er sich losriß, hat Ganz zu einer Autorität
in der Kenntnis schweizerischer Kultur des 15. und 16.
Jahrhunderts gemacht. Dazu komrnt noch, daß der
Gelehrte, der jahrelang das Basler Museum verwaltete,
so recht an der Quelle saß, sind docli dort alle Doku-
mente plastischer und archivalischer Art am schönsten
zu iibersehen und am leichtesten zu handhaben. Auch
*) Herausgegeben von Prof. Dr. Paul Ganz, Basel. Gedruckt
und verlegt von der Buchdruckerei Berichthaus in Ziirich, 1924.
174 Seiten Text und 120 große Bildtafeln.
so war es eine gewaltige Arbeit, die es zu verrichten
galt, und es ist begreiflich, daß auch dieses Buch die
Malerei der helvetischen Städte und Länder nicht völlig
erschöpft. Ganz handelt fast nur von den Gemälden im
engeren, neueren Sinne des Wortes und zieht die
Wand- und Glasmalerei, die docli gerade in der Schweiz
blühten, nur nebenher heran.
Diese Einschränkung war vorderhand nocli not-
wendig: Nur so konnte der Stoff in einen annehmbaren
Rahmen gebracht werden. In großen Zügen, die aber
Strich um Strich von bewunderswerter Einzelkenntnis
gesättigt sind, führt uns Ganz durch das spätere Mittel-
alter herunter bis auf die Zeit, wo die Eidgenossen-
scliaft als kraftvoller Staatenbund dastand und geradezu
eine Großmacht darstellte. Er zeigt uns, wie die Stadt-
republiken an Stelle der feudalen Gewalten die Führung
übernehmen, und wie die Kunst, die allenthaiben, in
Burgund sowohl wie in Italien, sich vom Byzantinismus
losrang, in der Schweiz vollends völkischen Gharakter
annahm. Die Grundlagen für diese der Schweiz eigen-
tümliche Wendung enthüllt Ganz in einem der bedeu-
tendsten Abschnitte seiner Darstellung, um sich darauf
in einem nicht minder wertvollen Kapitel dem Konrad
Witz und seiner Schule zuzuwenden. Mit Konrad Witz
bekommen wir ja auch erst künstlerischen Heimatboden
unter die Füße. Darauf läßt sich bauen, wie es einst die
Künstler taten. Was nach Witz kam, bis die wunder-
same Vermengung des Humanismus und der italie-
nischen Klassik mit dem Volksgeist und der lange noch
nachwirkenden Spätgotik vor sich ging, das breitet
Ganz in prächtigen nach den Kulturkreisen Basel, Zü-
rich und Bern geordneten Bildern vor uns aus. Da
kommen denn auch die Gestalten in den Vordergrund, in
deren Wirken sich die Entwicklung am reifsten oder
aufs schlagendste offenbart: die Graf, Holbein, Leu. die
Nelkenmeister, Fries und Manuel. Mancher deutsche
Leser wird über die Selbstherrlichkeit dieses einstigen
Reichsgebietes staunen. Manchen auch wird es ver-
locken, die Eigenart der süddeutschen Künstler und
ihrer nächsten Nachbarn und Stammesgenossen über
dem Rhein miteinander zu vergleichen. Er wird dabei,
wenn er z. B. Kriegsleute Grafs mit solchen Dürers ver-
gleicht, auf neue Empfindungen und Einsichten kommen.
Ganz verdient uneingeschränktes Lob. Das kann
nicht hindern, daß man hie und da eine andere Note zu
hören wünscht. An die Erschließung ferner und naher,
großer und kleiner Zusammenhänge ist eine unendliche
Miihe gewendet, und wir wissen es ihm Dank. Da und
dort aber ist über dieser Mikroskopik ein Mann zu kurz
gekommen, so bei hoher Anerkennung durch Ganz
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lobannes IDidmet’^Qenf
Unser ständiger Mitarbeiter Professor Dr. Johannes
Widmer bespricht im nachstehenden Aufsatz ein neues
Werk von Paul Qanz, das gewiß auch den Leserkreisen
des „Kunstwanderers“ willkommen ist.
j ie Schweiz ist von Historikern, von Naturwissen-
schaftern, von Soziologen erforscht und in um-
fassenden Werken beschrieben worden. Für das lite-
rarische Leben haben sich eine ganze Keihe von Ge-
samtdarstellungen ergeben. Nur mit der Kunst wollte
es nicht voran gehn. Zwar Vor- und Teilarbeiten gibt es
in Menge, ja sie sind so zahlreich, daß gerade ihre
Überfülle und Mannigfaltigkeit, dazu ihre Zerstreuung
über all die 22 Kantone ein großes Hindernis für eine
Schilderung des ganzen malerischen und bildnerischen
Schaffens ist. Aber nicht nur die vorhandene Literatur,
die Kunstwerke selbst sind weit mehr als anderswo ver-
teilt. Man braucht nur die von Pauli herausgegebenen
Reisebriefe Lichtwarks zu lesen, um zu sehen, in wel-
cher Weise er von den kleinen und großen Schweizer-
städten spricht, um nachzuerleben, wie er sich für Solo-
thurn, für Genf, für Zürich vom Standpunkte des Städte-
bauers, des Architekten, des Kunstfreundes, des Samm-
lers und des Museumsleiters interessiert, und entdeckt,
und schwärmt.
Seit wenigen jahren ist, was Lichtwark nicht mehr
erlebte, die Freude an der Tatsache des gemeinsamen
Kunstbesitzes in aer Schweiz lebhafter und allgemeiner
geworden; auch die Frage nacli den Merkmalen dieser
Gemeinsamkeit wird häufiger und gründlicher gestellt
und erörtert. Der Sache auf den Grund zu gehn, wur-
den mehrere Ausstellungen veranstaltet, deren kvich-
tigste die von der Zürcher Kunstgesellschaft zustande
gebrachte Schau alter Gemälde und Skulpturen (Herbst
1921) und die Pariser Ausstellung (1924) waren. Beide
sind im „Kunstwanderer“ gewürdigt worden.
Jetzt kommt das erste weitausgreifende Werk :;:)
heraus: „M a I e r e i a e r F r ü h r e n a i s s a n c e i n
d e r S c h w e i z“. Der Verfasser. der bekannte Hol-
beinforscher Paul G a n z , war der richtige Mann
dazu. Sein unablässiges Bemühen, für seinen Helden
das Milieu nachzuerschaffen, in dem er groß wurde und
von welchem er sich losriß, hat Ganz zu einer Autorität
in der Kenntnis schweizerischer Kultur des 15. und 16.
Jahrhunderts gemacht. Dazu komrnt noch, daß der
Gelehrte, der jahrelang das Basler Museum verwaltete,
so recht an der Quelle saß, sind docli dort alle Doku-
mente plastischer und archivalischer Art am schönsten
zu iibersehen und am leichtesten zu handhaben. Auch
*) Herausgegeben von Prof. Dr. Paul Ganz, Basel. Gedruckt
und verlegt von der Buchdruckerei Berichthaus in Ziirich, 1924.
174 Seiten Text und 120 große Bildtafeln.
so war es eine gewaltige Arbeit, die es zu verrichten
galt, und es ist begreiflich, daß auch dieses Buch die
Malerei der helvetischen Städte und Länder nicht völlig
erschöpft. Ganz handelt fast nur von den Gemälden im
engeren, neueren Sinne des Wortes und zieht die
Wand- und Glasmalerei, die docli gerade in der Schweiz
blühten, nur nebenher heran.
Diese Einschränkung war vorderhand nocli not-
wendig: Nur so konnte der Stoff in einen annehmbaren
Rahmen gebracht werden. In großen Zügen, die aber
Strich um Strich von bewunderswerter Einzelkenntnis
gesättigt sind, führt uns Ganz durch das spätere Mittel-
alter herunter bis auf die Zeit, wo die Eidgenossen-
scliaft als kraftvoller Staatenbund dastand und geradezu
eine Großmacht darstellte. Er zeigt uns, wie die Stadt-
republiken an Stelle der feudalen Gewalten die Führung
übernehmen, und wie die Kunst, die allenthaiben, in
Burgund sowohl wie in Italien, sich vom Byzantinismus
losrang, in der Schweiz vollends völkischen Gharakter
annahm. Die Grundlagen für diese der Schweiz eigen-
tümliche Wendung enthüllt Ganz in einem der bedeu-
tendsten Abschnitte seiner Darstellung, um sich darauf
in einem nicht minder wertvollen Kapitel dem Konrad
Witz und seiner Schule zuzuwenden. Mit Konrad Witz
bekommen wir ja auch erst künstlerischen Heimatboden
unter die Füße. Darauf läßt sich bauen, wie es einst die
Künstler taten. Was nach Witz kam, bis die wunder-
same Vermengung des Humanismus und der italie-
nischen Klassik mit dem Volksgeist und der lange noch
nachwirkenden Spätgotik vor sich ging, das breitet
Ganz in prächtigen nach den Kulturkreisen Basel, Zü-
rich und Bern geordneten Bildern vor uns aus. Da
kommen denn auch die Gestalten in den Vordergrund, in
deren Wirken sich die Entwicklung am reifsten oder
aufs schlagendste offenbart: die Graf, Holbein, Leu. die
Nelkenmeister, Fries und Manuel. Mancher deutsche
Leser wird über die Selbstherrlichkeit dieses einstigen
Reichsgebietes staunen. Manchen auch wird es ver-
locken, die Eigenart der süddeutschen Künstler und
ihrer nächsten Nachbarn und Stammesgenossen über
dem Rhein miteinander zu vergleichen. Er wird dabei,
wenn er z. B. Kriegsleute Grafs mit solchen Dürers ver-
gleicht, auf neue Empfindungen und Einsichten kommen.
Ganz verdient uneingeschränktes Lob. Das kann
nicht hindern, daß man hie und da eine andere Note zu
hören wünscht. An die Erschließung ferner und naher,
großer und kleiner Zusammenhänge ist eine unendliche
Miihe gewendet, und wir wissen es ihm Dank. Da und
dort aber ist über dieser Mikroskopik ein Mann zu kurz
gekommen, so bei hoher Anerkennung durch Ganz
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