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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 10./​11.1928/​29

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1. 2. Dezemberheft
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Tietze, Hans: Aus den Museen von Reims und Amiens
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https://doi.org/10.11588/diglit.25877#0168

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folge mit neun zweiteiligen Darstellungen aus dem Lei-
den Christi; die zwölf Apostel als Träger des Credo;
ein Einzelstück mit Christi Himmelfahrt; endlich in sie-
ben Bildern de „Rache Jesu Chrsti“, d. h. die Geschichte
der Eroberung und Zerstörung Jerusalems und der Zer-
streuung der Juden. Daß diese Malercien mit den
Mysterienspielen zusammenhängen, die im 15. und 16.
Jahrhundert mit besonderem Pomp in Reims aufgeführt
wurden, ist niemals ganz vergessen worden. Dagegen
ist die Tradition kaum richtig, die sie als Vorlage für
Tapisserien bezeichnet; sie haben weder die Werk-
haftigkeit noch die Spiegelgemäßheit derartiger Kar-

Stadt — die Männer, die ein gefallenes Pferd abhäuten,
die Leute, die auf Ratten und Mäuse Jagd machen, die
Frau, die im stillen Kämmerlein ihr Kindlein am Spieße
brät — sind mit einer Realistik geschildert, die in den
Bülmenbildern des Mysteriums vorgebildet war. Diese
Folge ist die jüngste der erhaltenen Tücher; zu den
ältesten gehören die zwölf Apostel mit den ellenlangen
Sprüchen, sie haben noch das weiche Pathos des frühen
15. Jahrhunderts. Was durch die ganze Serie hindurch
charakteristisch ist, das ist die enge Verbindung der
künstlerischen Gestaltung mit der literarischen Fassung,
die naivem Empfinden entsprechende Verknüpfung von

tons. Eher könnte man sie als Ersatz für Tapisserien
ansehen. In seiner Untersuchung der Anfänge P. Breug-
hels hat Gustav Gliick darauf hingewiesen, welche be-
trächtliche Rolle solche gemalten Tücher als wohlfeiles
Surrogat der kostspieligen Gattung der Tapiserien ge-
spielt haben; auch die Reimser Bilder sind offenbar als
sparsamer Wandschmuck gedacht gewesen, um die Er-
innerung an jene Festspiele festzuhalten. Unzweifelhaft
ist auch der Stil der Darstellungen von diesem Zusam-
menhang mit dcm Theater beeinflußt; die Zerlegung der
Vorgänge in drastische Episoden, die Betonung des
Genrehaften, die Kontrastierung von komischen und
tragischen Szenen, all dies ist von bühnenmäßiger Wir-
kung. Ganz besonders gelten diese Eigenschaften fiir
die kecken und frischen Erfindungen der „Vengeance
de Jesus—Christ“. Die Bestürmung von Jerusalem mit
dem Aufwand an gefährlichen Belagerungsmaschinen
oder die Leiden der hungernden Bevölkerung in der

Bild und Wort, durch die die Kunst an der Wende des
Mittelalters zur Ncuzeit die erstaunliche Fruchtbarkeit
gewinnt; sie sollte schildern und belehren, hinter ihren
Formproblemen, die unsere einseitige Auffassung iso-
liert, steht ein unvergleichlich vielseitigerer Dienst am
Leben.

Ein ähnlicher Geist — nur aus mittelalterlicher
Volkstümlichkeit in Renaissance-Bildung umgewandelt
—- lebt in der Bilderfolge des Puy-Notre-Dame, die im
Museum in Amiens einen eigenen Saal einnimt. Es sind
13 Bildcr von der Spätgotik bis zur Mitte des 17. Jahr-
hunderts, z. T. in prachtvollen geschnitzten Rahmen,
alle mit einer Darstellung Mariae mit dcm Kinde, die
seltsame allegorische Beziehungen umwölken und ein-
gestreute Schriftbänder erläutern, alle endlich mit
knieenden Stiftern und offenbar Erzeugnisse einer
Lokalschule, deren naher Zusammenhang mit der süd-
vlämischen Malerei hier im Norden Frankreichs nicht

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