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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 5
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Reichenbach, Woldemar von: Kunst und Staat
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0055

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Nunst und Staat.

^Z^K^otwendigkeit, nicht nur „Anstands-Micht"
es für ein Rulturvolk, die Aunst zu

Ieder Grganismus muß die Alöglichkeit seiner
Lristenz in sich selber tragen, doch erst, wenn er in
Wechselwirkung tcitt mit anderen, dient er seinem
eigenen Fortschritt und dem Fortschritt Aller. kVie
der Linzelorganismus, so der Staat. Um bestehen
zu können, muß er sich die Bedingungen seines Daseins
sichern, muß er die Grenzen schützen durch cheer und
Flotte, muß er innere Grdnung schasfen durch das
Gesetz, muß er den Bedürsnissen seiner Bürger
Rechnung tragen. Dann aber erst, wenn er in wechsel-
wirkung mit anderen Staaten tritt, hört er auf,
ein totes Glied im Ganzen der Menschheit zu sein,
wirkt er mit an der Fortentwickelung des A7enschen-
geschlechts.

Sie ist gleichbedeutend mit der Fortentwickelung
des Menschengeistes.

Denn diese ist es, die uns über die Tiere er-
hoben hat und uns noch weiter erheben wird. Sie
hat zwei Seiten: wissen und Rönnen. wissenschast
(das wort im weitesten Sinne genommen) ist Fortbau
des wissens; Aunst (wieder im weitesten Sinne) ist
Fortentwickelung des Aönnens. Die Missenschaft
schreitet vom Besondern zum 2lllgemeinen, sucht sür
das Linzelne das allgemeine Gesetz, ist die sichtende
Auseinanderlegung des geistigen Stosfes. Die Runst
dagegen macht das Besondere zum Träger des All-
gemeinen, giebt ihm gleichsam Lleisch und Blut, ist
seine Individualisierung. Nimmt man die Begrisfe in
diesem weiten Binne, so hat jede Wissenschast ihre
Aunst, die deren abstrakten sZnhalt zu konkretem Sein
gestaltet, die „graue Theorie" versinnlicht durch des
„Lebens goldnen Baum". Nlan denke an Staats-

wissenschast und Staatskunst, an die Naturwissen-
schasten, die in diesem Sinne ihre Aünste besitzen in
Industrie und Gewerbe.

Die Vereinigung von Missen und Aönnen wird,
in That übersetzt, zur Arbeit, deren nächster Zweck
sür das Tinzelwesen ist: die Lrlangung höchstmöglichen
Wohlbehagens durch Trhaltung und Anregung des
körperlichen und geistigen Seins, will sagen durch
Genuß — nicht etwa durch §Ieib oder Seele ver-
settende Schwelgerei, die man sa auch „Genuß" nennt,
sondern durch Ausnutzung geistiger oder leiblicher
Nahrung zur Stärkung und Belebung, zur Verfeinerung
des Nervensysteins und Bereicherung des Gehirnlebens.
Zch glaube, wir können drei Stusen von Arbeit unter-
scheiden. Zunächst: Arbeit, bei welcher wissen und
Aönnen durch tägliche Gewöhnung ins Automatenhaste
hinabsinkt, wie ost bei Tagelöhnern und Fabrikarbeitern.
Zweitens: Arbeit, welche das vorhandene Wissen und
Aönnen bewahrt und ausbreitet. Drittens: 2lrbeit,
welche weiterschasst.

Giebt Wissenschast den belebenden Samen, so
giebt Aunst die reise Frucht, die selbst wieder Aussaat
ist. TVas Bürgschast ist gesunden Staalslebens, wird
Vorbedingung zugleich sür lebenersüllte gedeihliche
Zukunst. Große Geschichtsepochen, eingeleitet durch
wissenschastliche Bestrebungen, werden geschlossen
durch leuchtende Werke des Aönnens. Die Zndivi-
dualisierung der gesundenen Gesetze! So macht das
Aönnen den Fazitvermerk aus das beendete Blatt im
großen Aontobuch der Entwickelung. Das kommende
Geschlecht aber schlägt im Rontobuch nach und stellt
das Fazit in die eigene Nechnung. Wäre es anders,
der Staat hätte den Nachteil daoon. Stillstand in
wissenschast und Aunst — und die Btaatsmaschine
rostet; hat der Staat nur noch die Araft zum Be-
wahren des Trworbenen, so versinkt er in Schlas wie


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