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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 3
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Bie, Oscar: Vom "Geschmack"
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0044

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sich aus der mcnschlichen Natnr heraus ganz von
selbst ergeben mußte. Jndem der Geschmack sowohl
von der Zeit wie von der Person abhängig ist, nimmt
er die Forderungen beider in einer dritten, neuen
Gestalt aus. Der Geschmack ist entweder die Beton-
ung der Personlichkeit innerhalb des Zeitstils, oder
die Konzession der Persönlichkeit an den Zeitstil. Per-
sönlich und modern ist der Geschmack zugleich immer,
aber er opsert ein Stück des einen Faktors zu Gunsten
des anderen. Dieses Opser drückt sich in Form eines
Urteils aus, dem irgend eine entsprechende Aeußerung
folgen kann.

Ein Baumeister, der im sZ. Jahrhundert irgend
einen gänzlich individuellen Stil angewendet hätte,
würe nicht geschmackvoll genannt worden. Ebenso-
ivenig aber hätte man einen Grnnd gehabt, ihm dieses
Beiwort zu geben, wenn er einsach in den herge-
brachten gotischen Formen gebaut hätte, ohne eine
Spur eigener Ausfassung. Erst wenn er innerhalb
dieser Gotik mit Maß und Eleganz eine Reihe indi-
vidueller Jdeen vorgebracht hätte, würde man einen
besonderen Geschmack an ihm gerühmt haben. Je-
mand, der sich seine Wohnung in durchaus konven-
tioneller Art einrichtet, ohne irgend einen Winkel mit
besonderer Liebe zu behandeln, wird auf Geschmack
keinen Anspruch machen; aber wo man innerhalb der
herrschenden Mode eine Jndividualität herausspürt,
wird man gern mit dem Beiworte bei der Hand sein.
Ein Musiker, der heute ohne jede sormale Rücksichten,
ohne Schlüsse, ohne Tonalitäten eine naturalistische
Darstellung eines inneren Norganges komponieren
würde, könnte sich höchstens den Ruf eines Genies,
niemals den des Geschmackes erringen, während ein
Komponist, welcher die allgemein giltigen Schönheits-
gesetze unserer jetzigen Musik wie einen Schliff an
seine persönlich radikalen Ergüsse legt, schnell den
Erfolg des Geschmackes sich erringen wird. Man
sieht: entweder weicht die Persönlichkeit der Allge-
meinheit, oder diese jener. Der Geschmack ist die
Versöhnung zwischen den beiden kunstbewegenden Fak-
toren, dem starken, entdeckenden Jndividuum und der
Assoziationen bildenden, verbreiternden Stilherrschast.

Da der Geschmack ein Kompromiß ist, so ist er
ein Stillstand. Denn er versöhnt die Faktoren, welche
sich eben nicht versöhnen, sondern die kämpsen sollen,
um den Prozeß der Geschichte sortzusetzen. Darum
sind alle wirklich bewegenden Geister in gewissem
Sinne geschmacklos und alle eklektischen und epigonen-
haften Zeitalter geschmackvoll. Man kann Michel-
angelo nicht geschmackvoll nennen; dieses Wort ist zu
dumm und zu klein sür ihn. Und derjenige, der
vielleicht zum ersten Mal wagte, um den Salontisch
lauter absichtlich verschiedene Sessel zu stellen, hieh
wohl auch einige Zeit lang geschmacklos. Heut kann

man sowohl Michelangeleske Figuren machen, wie
verschiedene Sessel um den Tisch stellen, ohne ge-
schmacklos zu heißen. Denn beides ist indessen Stil
geworden und hat die Herbheit gänzlicher Jndividua-
lität verloren. Der Geschmack ändert sich nicht nur
mit den wechselnden Stilen, sondern auch mit den
wechselnden Jndividuen, und was heut geschmacklos
ist, kann morgen geschmackvoll sein, weil entweder
der Stil sich verschoben hat oder die Jndividualität,
welche die „geschmacklose" Anregung gab, gebrochen
ist. So werden die Zeiten, die keine großen Jndivi-
duen haben und nur kleine Personen-Nüaneen, welche
den Stil ganz leicht wandeln, eines besonderen Ge-
schmacks-Rufes sich erfreuen. Niemand wird leugnen,
daß ein so seiner eklektischer Geist wie Luzian, der
sich seine Jdealschönheit aus den Kunstwerken aller
Jahrhunderte zusammenborgt, viel zu wenig per-
sönlich war, um jemals geschmacklos sein zu können,
und zu geistvoll und urteilssest andererseits, um nicht
einer der ersten Weltmänner des Geschmackes zu heißen.
Die Niederländer zur Zeit des Mabuse, die ihre harte
heimische Art an den weichen Formen Jtaliens ab-
schliffen, oder die Klassizisten um Mengs, welche jede
stärkere mdividuelle Regung in den harmonischen
Linien des Antikischen erstickten, sind Beispiele sür eine
Überherrschast des Geschmacks, die dadurch geradezu
gesährlich wird, daß sie von der Tppik gegen das !
Jndividunm allzu mörderisch vorgeht. Unsere moderne
Baukunst bezeichnet vielleicht die goldene Mittelstraße
des Geschmacks, der sich ja — selbst eine Vermitt-
lung — aus dieser Mittelstraße am wohlsten sühlt.
Diese leichte eklektische Verwendung aller stilistischen
Ausdrucksformen, die gerade in ihrer Weite dem ein-
zelnen Menschen genug Raum lassen, seine indivi-
dnellen Neigungen zu bethätigen, sodaß kein Haus
aus der Mode fällt und doch keines wiederum ganz
nur Mode ist — sicher wird man einst dieser Bau-
kunst eher alles andere vorwerfen, als daß sie ge-
schmacklos war.

Jn der Geschichte ist der Geschmack ein Zeichen,
daß es an großen Anregungen fehlte, er ist ein Epi-
gonenzeichen — sein Dasein ist schön, sein Fehlen
noch schöner. Jm Leben dagegen hat er eine ganz
andere Bedeutung. Das Leben ist gegenwürtig und ist
eine Fülle von Beziehungen, ein ewiges Ausgleichen
zwischen den gewordenen Verhältnissen und den wer-
denden Neigungen. Tausend Widersprüche sind zwischen
der objektiven Geschichte und dem subjektiven Leben;
auch der Geschmack stellt sich in beiden anders. Er,
der in der Geschichte ein gesährliches Symptom be-
bedeutet, ist in der Erfahrung des Lebens eine er-
qnickende Kultur. Wenn uns seine Grazie sehlte,
wären wir unglücklich. Er ist der täglich benötigte
Trost, den die Laune über die Banalitäten der All-


 
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