Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

DOI Heft:
Heft 20
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Vom Bilderbesehen
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0322

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

persönlichen Begabung nach den verschiedensten Rich-
tnngen hin aus Bilder auslugen. Und sie sehen eher
als wir Schönes odcr Jnteressantes, darnm ent-
decken sie in der reichen Gotteswelt um uns Schön-
heiten, ivo wir noch nichts davon wahrnehmen können,
wo wir vielleicht sogar znnüchst nnr grobe Häßlich-
keiten sehen.

Lernst du recht Kunst verstehn,

Lernst du mit hundert Augen sehn.

Aber auch hier wieder ist ja das Auge nur ein
Organ der Seele, deshalb dürfen wir auch von der
Knnst sagen:

Fühlst du ganz ihr Klagen und Scherzen,

Fühlst du die Welt mit tausend Herzen.

So ist Frende ain Kunstwerk Freude am Naeh-
Sehen, Nach-Bilden, Nach-Empsinden, kurz gesagt:
am Nach-Schaffen. Angeregt durch den Künstler und
ihin folgend, arbeitet der Kunst wirklich Genießende
doch eben mit dcr eigenen Seele an einer Arbeit,
deren Schwierigkeitcn ihm der Künstler so erteichtert,
daß er sie zu bewattigen vermag, um der Lust, die
sie bietet, teilhaftig zu werden. Es ist eine Lust
dabei, wie sie fühlt, wer, iin Lnstballon aufsteigend,
das Gesetz der Schwere zu überwinden glaubt. Nber
es ist nicht solch eine Lnst allein der Jllusion,
eben weil die frcmde Krast uns wenigstens nicht immer
' trügt, sondern oft nnr anregt. Werden wir doch,
wie wir die Schönheiten an Kunstwerken entdecken,
altmühtich zu Entdeckern über diese Schönheiten hinaus,
zu selbstündigen Schönheitsentdeckern in der Natur.
Unsre Organe stürken sich, ivie sie sich nühren in
echtem Genuß, und das Lustgefühl an dieser Stürkung
ist nicht das geringste, was zur Freude am Kunst-
genießen mitwirkt.

Die seinsten Organe, die edelsten Krüfte unseres
Jchs werden somit durch die Kunst erzogen, gebildet
und bereichert. Deshalb ist es ja anch so kindlich- j

thöricht, die Kunst als einen Luxus aufzufassen, der
bestenfalls bestimmt sei, „das Leben zu verschönen".
Blicken Sie auf die W i s s e n s ch a s t — worin liegt
ihre größte Bedeutsamkeit für das Menschengeschlecht?
Nicht darin, daß sie Kenntnisse auf Kenutnisse erwirbt,
noch darin, daß diese Kenntnisse gelegentlich zu
praktisch wertvollen Ersindungen und Entdeckungen
sühren. Sondern darin, daß sie unser D e n k e n
zu immer höherem Können entwickelt, daß sie an immer
höheren Zielen uns selber wachsen lüßt. Nicht anders
die Kunst. Nicht in den einzelnen Bildern, die sie
uns unermüdlichen Auges sammelt von überallher,
nicht in diesen Kenntnisse n an sich liegt ihre
gewaltige Bedeutung, noch an der praktischen An-
wendbarkeit dieser Kenntnisse zu Schmuck und Schön-
gestaltung des Daseins — nein, eben darin: daß sie
unser Schaun und Fühlen sortwührend verfeinert,
bereichert und erweilert. Deshalb ist sie die völlig
gleichbürtige Schwester der Wissenschaft; und ihrer ivie
der Wissenschaft zu pflegen, ist Sache jedes einzelnen
wie der Allgemeinheit. Wer vor Bildern n u r daran
denkt, ob sie ein Zimmer schmücken können, ob sie
ihm „gesallen" oder nicht, u. s. w. — er hat das
Wesen der Kunst noch nicht erfaßt. Wie der echte und
sreie Forscher seiner kleinen oder großen wissenschaft-
lichen Aufgabe ohne jeden Nebenzweck nachgeht, so
strebt der echte und freie Künstler unbekümmert um
Gefallen oder Mißfallen s eine m Ziele nach: was
er mit dem Körper- oder Seelenange von neuem er-
schaut, oder was sich seinem Menschengemüt offenbart
hat in einer Stunde heiligen Empfangens, — auszu-
drücken, festzubannen, daß es auch von anderen
empfangen werde. So streut er Samenkörner aus.
Und wo die echte Freude an seinem Kunstwerk waltet,
wo es tief innerlich genossen mird, da gehen diese
Körner auf. A.

1Kunds cb a u.

DLcl)tung.

Ä-

* ^cböne Literatur.

Die zehn Gebote. Erzählungen des Kanzelfriedrichs
von Wilhelrn Schäfer. (Berlin, Schuster L Löffler,
Mk. 1.50.)

Der deutsche Naturalismus ist in der That, rvie ich
das irrrmer gewürrscht und auch an dieser Stelle schon hin
und rvieder freudig begrüßt habe, aufs Land hinaus
gegangen, ist dort von den Großstadtkrankheiten gesundet
und wird nun hoffentlich bald im stande sein, den dürf-
tigen Kunstpflänzlein, die man nach dem Muster der
Pariser Dekadenten in dcn „leitenden Kreisen" unsrer
Literatur züchtet, den Garaus zu machen. Einen Beweis
dasür bildet auch wieder dieser Band, der zehn nassauische
Dorfgeschichten enthült, von denen jede eins der zehn

Gebote illustriert. Alle sind knapp, klar, einfach, aber
keine ist konventionell, rveder nach der Seite der Er-
findung, noch nach der Darstellung hin; die moderne
Technik ist benutzt, aber es wird nicht mrt ihr geprotzt.
Allerdings ist der Kanzelfriedrich, der Bauer, dem die
Geschichten in den Mund gelegt sind, ein naher Ver-
rvandter des Anzengruberschen Steinklopfer-Hans, manche
Motive (wie das des „Retters von Breidenbach", das
recht rvohl nuf das des Hebbelschen „Schnock" zurückzu-
führen wäre) sind nicht neu, — aber das ist die Haupt-
sache: auf diesem Nasfauer Boden ift doch alles, was
geftaltet und erzählt wird, eigen gervachsen. Der Name
Wilhelm Schäfer reiht fich daher denen jener fchon nicht
mehr vereinzelten Schriftsteller an, die begriffen haben,
daß nicht in der literarifchen Richtung und Methode,
fondern im Volksboden die Kraft steckt, die eine Literatur
 
Annotationen