Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

DOI Heft:
Heft 22
DOI Artikel:
Bie, Oscar: Fahrrad-Ästhetik
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0350

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext



hikel fremde Körper bleiben. Für den sensitiven
Radler sind das ganz neue Gefühle, die sein Wesen
beeinslussen müssen. Er fühlt sich elastisch, beschwingt,
frei, und ein Hochgesühl geht durch sein Blut.
Es sind da die Symptome gegeben für den Menschen
mit scharfen Zielen und frischem Empsinden, der den
naturwissenschaftlich-skeptisch-dekadenten Typus ablösen
sollte.

Die formalistische Wendung des modernsten
Kunstlebens hat etwas Gesundes an sich, wenn man
unter Gesundung die Rückkehr zu ursprünglichen Be-
wegungsfaktoren, zu einfachen Gestaltungen, zum
Natur-Material versteht im Gegensatz zu der extremen
Wendung nach den letzten Kulturspitzen, letzten Em-
pstndungen, letzten Urteilen, die — halb notwendig
— halb krankhast erscheinen können. Jn einer
sormalistischen Zeit treten die sekundären Stoffe, die
Reslexe, die Assoziationen, die Deutungen in den
Hintergrund und der Akt, die Linie, die Zeichnung,
die Komposition, die Vereinzelung der Dinge spielen
wieder ihre Rolle. Wenn man so an alten Quellen
wieder schöpst, wie es heut in der ersten Kampfreihe
der Kunst wieder geschieht, tritt das Sentimental-
Dekadente zurück vor dem Pochen auf der ursprüng-
lichen Natur, vor der Freude an dem reinen
Rhythmus, vor der Betonung eines positiven Lebens-
inhalts. Rhythmus und Weite des Horizonts sind
die allerersten Kennzeichen des wieder erwachenden
Formalismus. Es ist die Reaction gegen die über-
triebene Unsymmetrie des Bohsme - Realismus und
gegen die übertriebene Jntimität der Dekadenz.

Des Radlers Bewegung ist Rhythmik. Von
all den gleichmäßigen Bewegungen, mit denen wir
übers Land gleiten, ist seine die gleichmäßigste, und
wenn er sehr poetisch veranlagt ist, mag er sich sühlen
wie ein kleiner Gott, der den großen Rhythmus
aller kosmischen Bewegung en oUniLture an seinen
Füßen hat und unter dem ewigen Gange der Pedal-
pendel sich den schnellen Weg zwingt. Jch will nicht
zu genaue Parallelen zwischen dieser entzückenden
Rhythmik des Wiegens über die Wege und jenen neuen
Sehnsuchten des Menschen durchsühren, die ihm heut
die Rhythmik wieder wertvoll machen. Das sind nur
so ganz sern anklingende Jdeenverbindungen, die mir
auf dem Rade draußen im Walde kommen, und man

nähme ihnen ihr Bestes, wenn man sie schars saßte.
Jch weiß ja noch nicht, was aus dieser ganzen Rad-
kultur wird, ich interessiere mich nur sür die neuen
Gefühlskomplexe, die man dabei in sich selbst beo-
bachtet.

Die interessanteste Beobachtung trifft das Ver-
hältnis zur Natu r. Wenn man nach langem
Stadtaufenthalt in der Eisenbahn hinausfährt, so
saugt man gierig die Landschaft durch die Fenster.
Die Bahnhosshalle bleibt zurück, die Geleise laufen
allmählich zusammen, der Zug schneidet aus ge-
bundener Route gleichmäßig stolz durch die Vorstädte
hindurch, die ersten ärmlichen Felder kommen, noch
wie gesengt vom Stadtdunst, die Villen, die Garten-
lokale, die offene Landschast und das dörfliche Leben
entwickeln sich organisch und dann sliegt das ganze
Land vorbei. Was man vom Eisenbahnfenster sieht,
ist kein intimer Genuß, es ist ein geographisch-
kultureller Genuß. Es ist die Entwicklung der Stadt
zum Land und des Landes in seinen großen Zügen;
aber man sieht es doch immer wieder und man
fühlt einen unendlichen Reiz gerade in der Schnellig-
keit der Entwicklung. Dieser eigentümliche Natur-
sinn, der vom Eisenbahnfenster aus gleichsam nur
gebunden und kästgartig sich befriedigt, wird beim
Radeln srei und selbständig. Man hält sich nicht
beim Grasbalm und der Libelle aus, man zwingt
die Landschast in großen Zügen und erlebt die Geo-
graphie als etwas Wirkliches. Es in der eignen
Macht zu haben, sich aufzusetzen, das Geäder der
Stadt bis zum Land und die natürlichen Linien des
Landes selbstthätig zu durchlausen, das weitet den
Horizont und gibt Dingen einen Wert, den sie durch
die Periode der intimen Landschast verloren hatten.
Jch kann mir einen genialen Maler vorstellen, der
aus dem Rade das Breite, Reiche, Vedutenhafte,
das früher an der Bädekerei scheiterte, in einem
anderen, modernen, großzügigen Sinne der
Landschast wiedergewinnt. Und das muß ja srüher
oder später nach der Periode der äußersten Jntimität
mal kommen. Ob das Rad an solcher Wendung
mitarbeiten wird oder ob es nur ein charakteristisches
Kennzeichen der neuesten Umwertungen bleibt, das
weiß ich nicht. Gskar Me.

N u n d s ck 3 u.

DLcdtung.

* Scböne Literatur.

Das Friedenshaus. Eine Sonderlingsgeschrchte
aus der Gegenwart von Heinrich Bulthaupt.
sLeipzig, H. Haessel. Mk. z.—.)

Julius Grosse hat einmal einen Roman, „Ver treue
Eckart", geschrieben, in dem er das Schicksal einer Kolonic
geistiger und künstlerischer Größen, die „gestrandet", und
von einem Menschenfreunde in einem Schlosse unterge-
bracht sind, schildert — mit einer großen Empörung gegen
§ den Menschensreund schließt das interessante Buch. Eine
 
Annotationen