Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 11,2.1898

DOI Heft:
Heft 14 (2- Aprilheft 1898)
DOI Artikel:
B., R.: Vom Verkennen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7956#0047

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vom rpcrkennen.

«§roß sein, heißt mißverstanden werden, sagte Emerson, und in der
That drängt uns die Kunsigeschichte, indem sie fast bei jedem neuen
Meister das alte Thema von der verschäteten Würdigung abwandelt, je
länger je lauter die Frage auf, wie es wohl kommen mag, daß das-
jenige, was die Nachwelt als Höchstes und Herrlichstes beglückt, den
Zeitgenossen so oft als wertlose Absonderlichkeit erscheint, daß mit den
Jahren Unsinn zu Vernunft und Plage zur Wohlthat sich wandeln kann.
Fehlt es den Mitlebenden an Erkenntniskraft oder an gutem Willen?
Jst es Bosheit oder Unverstand, was dem Genie mit hundert Riegeln
dcn Weg zur Anerkennung sperrt, deren letzte meist wie durch Zauber
gerade dann erst aufspringen, wenn des Todes Hand den müden Bahn-
brecher berührt hat?

Sanguinische Künstler sind, wenn man ihre Meinung in dieser
Angelegenheit einholt, sehx gerne geneigt, die menschliche Bosheit als
Hauptfaktor in den Vordergrund zu rücken, da sie ebcn aus Erfahrung
ein Lied von der „Kollegen" Neide zu singen wissen. Und hinter jedem
Widersacher steht bekanntlich ein durch Bande der Freundschaft, der Be-
wunderung oder des Vorteils an ihn gekettetes, mehr oder weniger von
ihm suggeriertes Gefolge. Jndessen wird die Sache selten so schlimm
wie sie ausschaut, denn mit jeder solchen blinden Gegnerschaft pflegt
auch ein blinder Anhang, aus reinem Widerspruch gegen jene, sich ein-
zustellen. Zum mindesten ist man aus der einen Seite geneigt, alles
anzuerkennen, was von der andern herabgesetzt und getadelt wurde.
Bewußte Bosheit dürfte übrigens bei solchen Parteinahmen in der Regel
nicht anzunehmen sein; gcwöhnlich handelt sich's um eine Trübung
desVerstandes durch Affekte, wie sic persönlicher Zwist oder
der Widerstreit von Jnteressen so leicht auskommen lätzt. Der Geist des
Leidenschaftlichen gleicht eben einem Fernrohr, das sich automatisch gegen
die Vorzüge des Gcgners mit der klcinen, seinen Fehlern gegenüber mit
der großen Linse einstellt, so daß jene sast in Nichts kleinwinzig

Z7
 
Annotationen