Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 11,2.1898

DOI Heft:
Heft 20 (2. Juliheft 1898)
DOI Artikel:
Bartels, Adolf: Die neuere deutsche Lyrik, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7956#0245

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
tiefaufqucllenden clementaren Klänge verliehen, die sie als einzig in ihrer Art
erfcheinen läßt. Nur ein oberflächlicher Beurteiler hält dies Metaphysische der
Hcbbelschen Lyrik für Reflexion; es sind gar keine Gedanken, die hier gestaltet
sind, sondern Urernpfindungen tiefster Art, die nur, weil ihnen die logisch ge-
wordene moderne Sprache im Wege war, öfter nicht vollständig zum reinen
Ausdruck gekommen, gleichsam in Schlacken erstarrt sind. Aber häufiger als
jcdem anderen deutschen Dichter ist es Hebbel doch gelungen, solchen Empfin-
dungen körperliche Gestalt zu geben. Dabei entfernt er sich keineswegs vom
Schlicht-Menschlichen, das Metaphysische ist oft gewissermaßen nnr die Krone
von diesem, wie in dem Gedichte „Großmutter", das der Dichter mit 23 Jahren
geschrieben hat.

Dieses Gedicht ist trotz seincs metaphysischen Zuges fast volkstümlich, wie
dcnn Hebbel, obgleich er nie etwas Volksliedartiges geschaffen, doch in vielen
Gcdichten dem Volke nahe bleibt. Man lese das frische Lied „Der junge
Schiffer", „Das lctztc Glas", den schöncn Zyklus ,Ein frühes Liebcsleben" mit
dcn wunderbaren Stücken ,Süße Täuschung" und „Nachts", das echt frühlings-
haste Gedicht „An Hedwig", vor allem „Das alte Haus" und fast sämtliche
Balladcn. Diese gelten im allgemeincn als grausig und seltsam, wobei man
natürlich immer an den „Heideknaben" denkt, aber schon „Liebeszauber" hat
außer dem unheimlichen auch ein entzückendes erotisch - mystisches Element,
der „Dithmarsische Bauer" ist durchauS markig - volkstümlich, das „Kind am
Brunnen" und das „Kind" (Die Mutter lag im Totenschrein) sind volkstüm-
lich schlicht und rührend, „Schön Hedwig" ist volkstümlich romantisch, „Die
heilige Drei" zwar mystisch, aber durchaus gesund. Ein geschichtliches Stück
von groher Plastik, das einen schon an Konrad Ferdinand Meyers Gebilde
denken läßt, ist der „Diocletian" aus dem Nachlasse, voll Stimmung und An-
schanung der plaudernde „Spaziergang in Paris", von großer ethischcr Trag-
weiie „Der Brahmine", den man, da er auf dem Sterbelager entstand, des
Dichters Testament genannt hat. Unter Hebbels Sonettcn findet sich doch
eine Anzahl geradezu klassischer Gebilde, die Uhlands Erklärung, die Sonette
scien in deutscher Sprache nicht Blumen, sondern Edclstcine, genau cntsprechen,
und Hebbels zahlreiche Epigramme (Distichen) hat man wohl denen Goethes
und Schillers an die Seite gestellt, jedenfalls sind sie durchweg sehr glückliche
Prägungen. Den gelungnen Gedichtcn Hebbels steht allerdings eine zicmliche An-
zahl mißlungner gegenüber; der Dichter strebt öfter auch nach musikalischen Wir-
kungcn und macht dann wirklich, wie Treitschke bemerkt hat, den Eindruck eines
tanzendcn Bären. Dennoch ist er ein Meister der Form, wie jeder große Ly-
rikcr; daß die Form schwerflüssig ist, schadet nicht, im Gegenteil, es gehürt
notwcndig zum Charakter der Gedichte. Anders wälzt der wilde Bergstrom
scine Felsblöcke daher, anders der sanfte Wiesenbach seine Kiesel. Alles in
allom mag Hcbbel seine Sammlung richtig gcschätzt haben, wenn er nur dreißig
Stücke für vollendet hielt. Diese dreißig sind aber auch so einzig, daß jedes
von ihnen die Sammlung eines guten Durchschnittsdichters aufwiegt.

(Schluß solgt.) Adolf Bartels.
 
Annotationen