Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1899)
DOI Artikel:
Schielderup, Gerhard: Ist ein modernes realistisches Musikdrama möglich?
DOI Artikel:
Bartels, Adolf: Helene Böhlaus "Halbtier"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0097

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Jnteressant ist es, daß moderne realistische Dichter die verschiedenen
Dialekte benutzen, um der abgedroschenen Alltäglichkeit unserer Sprache
neue Lebenselemente zuzuführen. Diese frische Sprachmusik, die unsere
Phantasie in Bewegung setzt, und Bilder aus Wald und Wiese oder aus
den grauenerregenden Tiefen der Großstadt heroorzaubert, erstrebt eigent-
lich dasselbe, wie Goethes gebundene Sprache. Um zu verstehen, in
welchem Grade die Musik die Sprachmusik überragt, um Lokalpoesie zu
schafsen, braucht man nur an den alten, lieben, naiven, unvergänglichen
göttlichen Freischütz zu denken.

Jch glaube also an die Möglichkeit eines realistischen Musikdramas
der Gegenwart, und ich glaube, daß es uns einen ganz anders voll-
stündigen Eindruck von unserem jetzigen Leben geben wird, als irgend
ein Wortdrama. Es wäre ja auch merkwürdig, wenn gerade eine Zeit,
wo das Seelenleben sich ungemein verseinert und bereichert hat, sür
diejenige Kunst unzugünglich sein sollte, die vor allem eine psycho-
logische ist. Nein, ich glaube im Gegenteile sogar, daß das von so
vielen Dichtern erstrebte Ziel, „das" Drama der Gegenwart, nur mit
Hilse der Musik zu erreichen sei. Der moderne Sprachgesang würde sich
dem jetzigen Leben ganz natürlich fügen, während die alten, konventio-
nellen Opernsormen von selbst ausgeschlossen sind. — Selbstverständlich
sasse ich das Drama nicht als äußere Kopie, sondern als künstlerische
Vertiesung des Lebens aus. Nicht äußere Zusülligkeiten soll es uns
bieten, sondern es soll das Leben, sozusagen, mit Röntgenschen Strahlen
durchleuchten, es soll uns lehren, die wirkliche innere Natur hinter den
äußeren Vorgüngen zu entdecken. Mit großem Glück wird man auch
philosophische Gedanken und erhabene Symbole im Musikdrama der
Gegenwart verwenden können.

Freilich, auch aus diesem Gebiete müßten wahre Künstler vor-
gehen, nicht oberslächliche Charlatane, welche meinten, sie güben was
nagelneues, wenn sie äußere Vorgänge des gegenwärtigen Lebens opern-
hast ausbeuteten. Erst, wenn eine große künstlerische Krast das neue
Schwert geschmiedet hat, erringen wir wirklich das neue Jdeal, das
Musikdrama der Gegenwart. Gerhard Schjelderup.

Delene Köblaus „Dalbtiec".

Helene Böhlau hat unter den deutschen Romanschriftstellerinnen,
vielleicht den deutschen Dichterinnen der Gegenwart nach und nach die
erste Stelle erreicht. Selbstverstündlich, wenn man von der Ebner-
Eschenbach absieht, die aus anderen Zeiten kommt und in andere gehen
wird. Sie, Helene Böhlau, hat Kraft oder, um diesen Begriff zu zer-
legen, gestaltendes oder doch vortrefflich beobachtendes Talent, Tempera-
ment, Humor; der starken Neigung zur Krasthuberei oder, was dasselbe
sagt, der hier und da austauchenden Genialitätssucht hielt ein großes
Maß von Natürlichkeit und gesunder Anschauung bisher glücklich die
Wage. Nun scheint mir die Dichterin aber auch in die gefährliche Krise
einzutreten, die alle „modernen" weiblichen Talente, wie es scheint,
durchmachen müssen; sie beginnt, nach ihrem neuesten Roman „Halbtier"
zu urteilen, außer Rand und Band zu geraten, der unglückselige
„Prozeß, der zwischen Mann und Weib anhängig ist" und das Weib

Novemberheft ^899
 
Annotationen