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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 10 (2. Februarheft 1900)
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Bartels, Adolf: Die Deutsche Literatur und R. M. Meyer
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0382

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Literaturgeschichte sind vor allem die Lebensdaten der Dichter, sichere
Nachrichten, vor allem also Selbstgeständnisse über ihre Entwicklung, die
Entstehungs- und Erscheinungsjahre ihrer Werke, deren allgemeiner
Charakter, alles, worüber kein Zweifel möglich ist, also die Zugehörig-
keit zu dieser oder jener poetischen Form, die Verwandtschaft mit andern
Dichterwerken nur, wenn sie augenscheinlich ist, ihre sprachliche Aus-
gestaltung, soweit die Philologie darüber sicher urteilen kann, ihre reale
Wirkung, soweit sie sich klar seststellen läßt u. s. w. Schon in diesen Dingen
kann sehr ost llnsicherheit eintreten und das llrteil über die Dichter und
ihre Werke, nach dem dann wieder die geschichtliche Einreihung erfolgt,
hat mit ihnen nicht allzuviel zu thun — dennoch sind die Thatsachen
sehr streng zu respektieren, denn immerhin gewähren sie das einzig mög-
liche Fundament des zu errichtenden Baues. Der Literaturhistoriker,
der schon mit ihnen leichtsinnig umgeht, ist aus alle Fälle nicht be-
rusen. Wie könnte er je die übrigen, weit schwierigeren Ausgaben lösen,
die doch erst recht das allerstärkste Verantwortlichkeitsgefühl voraussetzen?

R. M. Meyers „Deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts"
nun ist so ziemllch das leichtsinnigste literaturgeschichtliche Werk, das mir
bis jetzt vorgekommen ist. Von Respekt vor den Thatsachen, vor der
Sachlichkeit, die jeder Literaturhistoriker haben kann, ist in ihm kaum
eine Spur vorhanden. Jch habe das in einer Broschüre* ausführlicher
nachgewiesen, hier will ich mich auf einzelne Beispiele beschränken.
Meyer sagt: „das Jahrzehnt von s850 bis s860 ist kein schöpserisches."
Nun aber schus Gottsried Keller, der von Meyer selbst sür den größten
deutschen Dichter nach Goethe erklärt wird, in eben diesem Jahrzehnt
nicht etwa Nebenwerke, soridern seinen „Grünen Heinrich" und die „Leute
von Seldwyla", es schuf in eben diesem Jahrzehnt Otto Ludwig
seine „Maccabäer", die vielfach als das bedeutendste nachklassische
Drama der deutschen Literatur hingestellt worden sind, die „Heiterethei"
und „Zwischen Himmel und Erde", es schus Friedrich Hebbel seine
„Agnes Bernauer", „Gyges und sein Ring" (nach Meyer selbst sein
vollendetstes Drama) und die „Nibelungen", es schus Gustav Freytag
scine „Journalisten" und „Soll und Haben", Fritz Reuter „Kein Hüsung",
„Hanne Nüte" und die „Franzosentid", Wilhelm Raabe die „Chronik
der Sperlingsgasse", Klaus Groth den „Quickborn", Storm seine erste
und zahlreiche andere Novellen, Heyse desgleichen, Scheffel den „Trom-
peter" und den „Ekkehard" u. s. w. u. s. w. Meyer aber behandelt alle
diese Dichter in dem Jahrzehnt von (8^(0 bis (850 und gibt sein Ver-
dikt. Ja, er behandelt selbst Konrad Ferdinand Meyer in diesem Jahr-
zehnt, Meyer, der nach eigenem Eingeständnis erst durch den Krieg
von (870 ein „Deutscher" wurde, und dann erst sein erstes Hauptwerk,
den „HutterQ herausgab! Und das soll G e s ch i ch t s schreibung sein!
Genau so unverläßlich ist R. M. Meyer, wo es sich um psychologische
Thatsachen handelt. Er schreibt: „den Höhepunkt erreicht dann diese
Bewegung (der Geniekultus) mit Friedrich Hebbel, der sich von zwei
polnischen Studenten auf den Knien anbeten ließ, und mit dem Fana-
tismus der Anhünger Richard Wagners." Zunächst waren es bei Hebbel

* „Ein Berliner Literaturhistoriker", Leipzig und Berlin, bei Georg
Heinrich Meyer.

Aunstwart
 
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