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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 12 (2. Märzheft 1900)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0474

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Jungen der Sache „praktisch" an und kämpften auf den Mumenbeeten, bis
kaum mehr eine Blume ftehen blieb; dann zerstampften fie aus Trotz der eine
die Gartenbeete des andern, und die Mädchen weinten, bis fie nicht mehr
weinen konnten; und alle legten fich fchließlich atemlos nieder auf die ver-
wüftete Flur, die Abendzeit erwartend, wo man fie heimführte.

Die Kinder im Jnnern des Hauses hatten fich inzwischen auf ihre Wei e
unterhalten. Für fie war für jede Art hüuslicheu Vergnügens vorgeforgt: es
gab Musik, um danach zu tanzen; Büchersäle waren offen mit allerhand herz-
erfreuenden Büchern; ein Museum mit den feltfamften Muscheln, Tieren und
Vögeln; eine Werkstätte mit Drechselbänken und Schreinerwerkzeugen für die
begabten Knaben; schmucke, fantastische Trachten für Mädchen; Mikrofkope und
Kaleidoskope; jegliches Spielzeug, woran ein Kind denken konnte; und im Speise-
saal ftand eine Tafel, übervoll mit den beften Gerichten.

Aber auf einmal kamen zwei oder drei der „praktischen" Kinder auf den
Gedanken, fie müßten die Nägel mit den gelben Köpfen haben, welche die
Stühle umfäumteu, und fo gingen fie an die Arbeit, um sie herauszuziehen.
Auf einmal bekamen die anderen, welche lasen oder fich die Muscheln an-
fchauten, den Einfall, dasselbe zu thun, und nach einer Weile verrenkten fich
faft alle Kinder ihre Finger, indem fie die gelben Nägel herauszogen. Soviele
fie auch herauszwängten, fie waren nicht befriedigt, und dann wünschte fich
jedes die Nägel des anderen. Und fchließlich erklärten die wirklich Praktischen
und Verftändigen, es gäbe an diefem Nachmittag fonft nichts, was der Mühe
fo fehr wert wäre, als recht viele gelbe Nägel zu bekommen; und daß die
Bücher, die Kuchen und Mikroskope nur insofern Wert hätten, als man Nägel-
köpfe dafür eintaufchen könne. Und fchließlich ftritten fie sich um Nägelköpfe,
ganz wie die andern um Gartenplätze gekämpft hatten. Nur hie und da kroch
ein verachtetes Kind in einen Winkel und fuchte in all dem Lärm ein wenig
Ruhe bei einem Buche; aber all die praktischen dachten den ganzen Nachmittag
an weiter nichts als an das Nägelzählen — wiewohl fie wußten, daß es ihnen
nicht geftattet war, auch nur ein Mefsingknöpfchen mitzunehmen. Doch nein,
— es hieß: Wer hat die meiften Nägel? Jch habe hundert, du fünfzig; ich
habe taufend, du zweitaufend. Jch muß mindestens foviel haben wie du, fonft
kann ich nicht in Frieden heimgehen. Zuletzt machten fie soviel Lärm, daß ich
aufwachte und bei mir dachte: Welch' ein falfcher Traum über Kinder! Es
liegt im Kinde der Mann und dieses ist klü ger. Kinder begehen keine solchen
Thorheiten. Nur Männer begehen fie.

Aunst und Zittlichkeit.

Leben ohne Arbeit ift Verbrechen, Arbeit ohne Kunft Vertierung.

Genau genommen ift dis Schönheit aller möglichen Kunst das äußere
Zifferblatt der von ihr ausgedrückten fittlichen Reinheit und Erhabenheit der
Empfindung.

Kein Kunftunterricht wird Jhnen nützen, sondern er wird Jhnen viel-
mehr fchaden, wofern er nicht auf etwas, was tiefer ift als alle Kunst, ge-
pfropft ist. Denn nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Kunft
aller Menfchen, in der Sprechkunst, sind die Hauptschäden der Erziehung durch
die eine große Täuschung entftanden, daß man annahm, eine edle Sprache
fei ein durch Grammatik oder äußere Nachahmung mitteilbarer Kunftgriff, ftatt
vielmehr der fchlichte Ausdruck richtigen Denkens. Alle Tugenden der Sprache
find im letzten Grunde fittliche; die Sprache wird genau, wenn der Redner er-
Runstwart

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