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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1902)
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Avenarius, Ferdinand: Sommerfrischengedanken
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https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0516

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leben diese Dämchen, die ihren etwas abgebrauchten Gesichtern
mit Lustigen-Ehefrau-Hüten aus dem Uebervrettl aufhelfen, währcnd
du um jedes Bein den Strick schnüren zu sehen meinst, mit dem sie
irgendwo in der Stadt angepflöckt sind? Lebt es, was nun mitsammen
an den Strand tänzelt, um nach einem „Großartig!" gegens Meer hin
auf der Trampelbahn weiter zu schwänzcln oder in dem Lager von
Strandkörben und Sandburgen sich im neuesten Klatsch zu ergehen aus
Politik, Theater, Kunst, Literatur, oder was man so nennt? Lebt das
alles? Fahnen sind ja Symbole, auch über diesem Strandlager flattern
hunderte von Fahnen, Zeichen, wo man zu treffen ist, Zeichen auch noch
von mehr. Auf den meisten steht was. „Haideröschen," „Der kleine
Kohn/ „Schon zweiundzwanzig!/ „Leipziger Sandbank ohne Krach,"
„Villa Hurrah," und was dergleichen Heiterkeit mehr ist. Lebt das
alles, oder hat's nur die Grimasse des Lebens? Jn der Stadt lebt
das nicht, denn es ist hier, hier aber lebt's auch nicht, denn es sieht
und hört und nährt sich hier nicht. Es sieht weder das Meer anders
als mit einem zehntel Blick, noch Düne und Haide, denn es lagert hier
als ein in die „Natur" hinausgekehrter Haufen sogenannter „Kultur."
Es hört auch nicht, denn der Donner der Wellen wie das Jauchzen des
Windes mit dem Müvengeschrei und dem Lerchengesang darin hallt über
Köpfe weg, die schwatzen,gähnen, schwatzen, kokettieren, schwatzen. Es nährt
sich hier nicht, denn wenn es nicht klatscht oder flirtet, so studiert's in dcr
Zeitung Kurse und das Neueste odcr schmökert im Modebuch. Ein halbes
Zehntausend Städter oder mehr hockcn da zu gleicher Zeit an einer
einzigen Stelle am Strand — „und ringsumher ist frische grüne Weide."
Was nehmen sie später mit heim vom Mecr? Was nehmen sie mit von
den Dünen? Was von dcr Haide? Was von den Wiesen? Was von
den Dörfern und ihren Menschen mit ihrem Vieh und ihrer Feldfrucht,
ihren Freuden und Sorgen sonst, die so reich sein könnten an Samen auch
für das Heim in der Stadt? Geh fünf Minuten weit von jenem Platze
nach Nord oder Süd, und es wird still, geh eine Stundc weit, und kaum
einer von der ganzen Gesellschaft begegnet dir noch. Geh abends ins
Kurhaus, da klümpeln sie wieder zu einander, ob „Räunion" ist odcr
nur „Kurmusik." Geh zu Stall oder Erntefcld, wo der Städter mal
lernen könnte, was eigentlich die Kuh und das Korn für merkwürdige
Dinge sind, von denen er doch trinkt und iht, und du wirst wie ein
Verrückter angesehen werden, wenn du wicder herauskommst, — weil du
dich „für so etwas interessierst."

Nach vier Wochen wird der Haufen in die Großstadt zurückgekehrt.
Fährst du mit ihm im O-Zuge, so vernimmst du dann seltsame Stimmen.
„Ja, solch cine Auffrischung braucht der Mensch; ohne einen Monat in
der Natur, da geht's nicht." Du hörst die alten Geschichten vom Riescn
Antäus und von der Mutter Natur genannt. Und besuchst du auf der
Rückreise in den großen Städten die Kunstausstellungen, so wirst du's
erleben, daß eben dieses Publikum mit dem Selbstbewußtsein geradc erst
aufgefrischter Sachkennerschaft davon spricht, ob die Natur hier wahr
oder salsch dargestellt sei u. s. w. Sie müssen's wissen, freilich! . . .

Kunst besteht nicht in der Wicdergabe von Natureindrücken allein,
— bestände sie n u r darin, wir hätten Grund, unser Großstadtpublikum
bis auf verschwindende Ausnahmen als völlig unmaßgeblich anzusehn
Runstwart
 
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