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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 10 (2. Februarheft 1903)
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Grunsky, Karl: Bruckners Symphonien
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0706

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schleudern. An diese vor allen möchte ich mich hier wenden in der
Ueberzeugung, daß sie vom Namen Bruckners weder geblendet noch gereizt
sind und also nur der Sache selbst Gehör schenken wollen.

Da nun aber ins Bewußtsein auch der unparteiischen Kreise durch
beharrliche Wiederholung einige seltsame Urteile eingedrungen sind, so
muß wohl oder übel Bruckners Art im Anschluß an ein paar Vorwürfe
der Gegner besprochen werden. Man behauptet, Bruckner sei formlos.
Dies konnte bei denen, die sich in die Geschichte der musikalischen Formen
nicht eingearbeitet haben, die Meinung erregen, als verstehe sich der
Komponist auf keine der überlieferten Formen und sei unfähig, eine neue
zu bilden. Seit jedoch nachgewiesen wurde, daß Bruckner die klassischen
Symphonie- oder vielmehr Sonatenformen nicht im geringsten verändert
hat, sucht man den Vorwurf ins Aesthetische umzudeuten und sagt: die
Symphonieen haben trotz der Beobachtung der klassischen Formen keinen
inneren, lebendig fühlbaren Zusammenhang. So hat die Behauptung
eincn logischen Sinn. Freilich ist auch jeder gebildete Laie nachgerade
mißtrauisch geworden gegen den Einwand der Formlosigkeit: zu ost in der
Musikgeschichte ist es dagewesen, daß sich formlose Musik zu form-
vollendeter umwandelte — im Urteil der Menschen nämlich. Der Fall
Beethoven ist da noch lehrreicher als der Fall Wagner. Jmmerhin,
jedes Neue verlangt seine eigene Prüfung, und vielleicht stimmt die
Aussage derer, die nichts aus der Geschichte gelernt haben, zufällig doch
mit den Tatsachen überein?

Dann aber müßte (worauf ich sehr zu achten bitte) Bruckners Musik
gleichzeitig mit der Formlosigkeit auch inhaltlich stark anfechtbar sein.
Denn von keinem Werk in der Musikgeschichte konnte sich ein Urteil
besestigen des Wortlautes, daß die Musik gehaltvoll und sormlos sei.
Wir sürchteten also sehr, ein solches Urteil möchte überhaupt grundlos
in der Luft schweben. Ueber das Gehaltvolle der Brucknerschen Musik
hat sich noch niemand getäuscht oder täuschen lassen; die Berechtigung
des Urteils, daß sie formlos sei, wird schon dadurch von vornherein un-
wahrscheinlich. Der Unbefangene, der an die Vorstellung gewöhnt ist,
daß Form und Gehalt unzertrennbar eins mit dem andern gegeben sei,
wird schwerlich eine Erfindungskraft anerkennen, ohne die Fähigkeit der
GesLaltung zu vermuten. Wenn ihm anfangs, namentlich bei der Länge
einer Brucknerschen Symphonie, manche Verbindungslinien zu fehlen
scheinen, so dürfte er sich mit der Hoffnung trösten, sie nach öfterem
Hören aufzufinden.

Jn der Tat ist die üppige, strotzende Erfindungsgabe dasjenige,
was selbst die Gegner bei Bruckner nicht in Abrede stellen, außer wenn
sie darüber hinaus sind, ernstgenommen zu werden. Und zwar gibt
Bruckner gerade am reichsten auf dem Gebiete des seit Beethoven stark
gefürchteten Adagios. Möge jeder Leser den schönsten langsamen Satz
aus Chopin, Schumann, Mendelssohn für sich auswählen und dann irgend-
welches Adagio von Bruckner genießen und im Geist neben jene stellen:
die Erkenntnis von Bruckners Größe wird, ein lebendiges Empfinden
vorausgesetzt, sosort aufleuchten. Bach und Beethoven sind die Meister,
mit deren Adagios die Brucknerschen verglichen werden können. Das
Scherzo der Symphonie ist weniger leicht zu verfehlen, weil es mehr
Möglichkeiten Raum läßt. Wer nur einigen Geist besitzt, weiß ein gutes

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