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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1903)
DOI Artikel:
Göhler, Georg: Musikalische Interpretationskünste
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0506

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^Vlusikaliscke ^snterpretalionskunste.

Jch will zu Anfang zwei Geschichten erzählen. Jn eine große Stadt,
die über ein künstlerisch gebildetes Orchester ersten Ranges verfügt,
kommt eine der jetzt so berühmten Reise-Kapellen unter der Leitung
ihres von der Presse und Reklame groß gemachten Dirigenten. Die
Leute reisen ohne künstlerische Nebenabsichten, sie haben ihre fünf
bis zwanzig Reißer im Programm, alte, unzählige Male gespielte, selbst
bei schlechtem Vortrag nicht versagende Treffer. Die „Attraktion"
bildet nur die „neue Auffassung", bilden nur die „genialen Nuancen".
Die Leute spielen die Oberon-Ouvertüre. Das Publikum gebärdet
sich wie närrisch. va oapo. Die Presse gebärdet sich wie närrisch.
Riesenerfolg.

Zweite Geschichte. Jn derselben Stadt wohnt ein Musiker, der
nicht zu den Reklamekomödianten gehört. Die Kunst ist ihm kein
Geschäft. Er ist noch mit dem Temperament, mit der Spielfreude
des Künstlers bei der Sache. Eben weil er ein Temperament ist,
kann er nicht aller Musik in gleicher Weise gerecht werden. Das kann
überhaupt in jedem Jahrhundert höchstens Einer. Aber er färbt nicht
aus Absicht, nicht um ein Geschäft zu machen und die Zuhörer zu
büpieren. Er gibt ehrliche Kunst. Dieser Musiker führt in jener Zeit
u. a. eine klassische Ouvertüre auf. Zweimal. Das erste Mal, wie's
der Komponist gewollt, mit dem kraftvollen, fest geführten Schlusse,
ganz im Stile des Komponisten. Kaum ein paar Hände rühren sich.
Die Verhältnisse erlauben noch eine Aufführung. Da laßt sich die
Probe aufs Exempel, d. h. auf die Verderbtheit und die Veräußer--
lichung des Geschmacks machen. Aus dem ganzen Schlusse macht der
Dirigent bewußterweise eine Parodie auf die modernen Jnterpretier-
.größen, bringt cine tolle strskta an, von der der Komponist keine
Silbe sagt, die dem Charakter des Ganzen zuwider ist. Nun sind
auch hier die Leute närrisch. va oapo. Die Presse närrisch. Riesen-
erfolg. Der Dirigent aber spricht: „Am liebsten hätt' ich dem Volk da
nnten den Taktstock ins Gesicht geworfen. Das wollen sie nun: Komödie!"

Die beiden Geschichten sind wahr. Die erste passiert ja jeden
Winter viel dntzendmale. Znr zweiten fehlen uns nur zumeist die

x. Augusthest ^yoz 393

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