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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI Heft:
Heft 10 (2. Februarheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Sehen und Schauen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0690

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8eben uncl 8ckaueu.

Unsre Leser mögen mir freundlich verzeihen, wenn ich heute
von etwas ganz Elementarem zu ihnen spreche — es geschieht der
Sicherheit unsrer gemeinschaftlichen Gedankenspaziergänge wegen. Denn
um wie Elementares sich's handele, es bleibt doch wahr, daß man in
jüngster Zeit gerade aus diesem Gebiet die Begrifse „mit Redncrgebärde
und Sprechergewicht" beängstigend durcheinander geworfen hat — wer
gibt uns Gewißheit, daß auch auf unsre Wege nicht allerhand gefallen
ist, worüber wir stolpern könnten? Besser, wir sehen uns nm und
räumen aus! Wie kämen wnr rüstig vorwärts, wenn wir nicht wenigstens
sür ein paar Grundbegrifse eine Uebereinstimmung der Gebildeten
herstellen oder erhalten könnten? Daß sich selbst bei den Worten
„Sehen" und „Schauen" in ihrer sozusagen kritiktechnischen Anwen-
dung viele sehr verschiedenes und manche gar nichts denken, beweist
aber sogar der größte Teil unsrer Kunstrezensionen betrüblich an
jedem Tag.

Zunächst ein paar Worte vom ganz gewöhnlichen Sehn. Auch
das kann bekanntlich schon recht verschieden sein je nach dem, worauf
unsre Aufmerksamkeit gerichtet ist: dem Botaniker wird, wenn er eine
Wiese überblickt, zunächst anderes ins Bewußtsein sallen, er wird andres
beachten als der Landwirt und wiederum als der Maler, und wenn
etwa Landwirt, Botaniker und Maler dieselbe Pslanze in die Hand
nehmen, so werden sie wiederum alle drei zunächst verschiedenes an
ihr beachten. Der erste prüft sie wahrscheinlich auf ihren Futter-
wert und beachtet zunächst nicht, was den Botaniker an ihr inter-
essiert, noch was den Künstler an ihr sesselt — es ist immer die ge-
wohnte Vorstellungsgruppe, es sind stets die geübtesten und also am
leichtesten reizbaren Vorstellungen, die ein Augeneindruck in unser
Bewußtsein hebt. Bleiben wir beim Künstler. Er hat beim Anblick
der Pflanze an ihren Nutzwert nicht gedacht, er hat aber auch die
Zahl ihrer Staubfäden, die Stellung ihrer Kelchblätter und ihre andern
botanischen Eigentümlichkerten kaum beachtet, ihn hat sofort inter-
essiert, was jene andern, wenn überhaupt, später erst beobachteten:

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