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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 21 (1. Augustheft 1904)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0483

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die des Faktums einer höchst merk-
würdigen Kulturerscheinung."

Das ist richtig, denn auch seine
neueste „Spur", dieser „Zeus" hier,
wird vom Regen der Zeit bald wie-
der weggewaschen sein. Eine „Kul-
turerscheinung" ist er ja auch, zum
mindesten ist auch er ein Kultur-
symptom. Wer zehn Jahre lang alle
möglichen Bücher, vor allem aber Zei-
tungen und Zeitschriften durcheinander
gelesen hat, der beginnt weit geöffneten
Mundes im Höhendunste mit großen
Geberden das Orakeln, schilt über
die Seichtheit, aus der cr seine Brok-
ken zusammcngetragen hat, und findet
zu jeder Zeit Gute, die andächtig
„hört den Propheten!" rufen. Uns
scheint es wirklich an der Zeit, daß
wir diese ganze „Aphorismcn"- und
„Essay"-Literatur endlich los werden,
dicse „begeisterte" Konfusionslitera-
tur, die in ihrer Oberflächlichkeit
allmählich zur Gefahr wird. -t.

kl-irerarur.

G Talent aus Schwäche.

Die folgenden des Nachdenkens
werten Worte finden wir als Ein-
leitung eincr Buchbesprechung von
Ernst Reinhart in der „Zukunft":

Jn unserer Zeit der breiten Zi-
vilisation blühen die bürgerlichen
Talente. Junge Menschen, durch
feinere Artung, schwächere Lebens-
kraft mehr zum Empfangen und Be-
trachten bestimmt als zum Faust-
dienst des Lcbens, solche etwa, die
in früheren Zeiten geistlichem Be-
ruf zugeführt worden wären, er-
kennen und ermcssen früh den eige-
nen Kontrast zur beschränkteren Um-
gebung. Selbstbeobachtung und reich-
licher Kunstgenuß, Anerkennung oder
Abweisung ihrer jugcndlichcn An-
sprüche: Alles trägt sie empor an
die Oberfläche des heimischcn Ele-
mcntes, das ihncn gleichgültig und
unedel scheint. Ausgetaucht, aber des

l- Augustheft

Fluges noch nicht fähig, erblicken
sie jetzt — zum erstenmal — Jhres-
gleichen im Schwarmgetümmel; zn
Dutzenden, zu Hunderten, und einer-
lei von wie weit herbeigeschwommen:
an allen erkennen sie das gleiche,
ihr eigenes Gesicht. Nun ringen sie
miteinander um Eigenart oder Jndi-
vidualität, weil diese ein Merkmal
großer Kunst ist. Wie ernst und tra-
gisch ist diescr neue Kampf! Haus
und Heimat hat sie ausgestattet und
gerüstet, widerstrebend und hoffnung-
voll und in Sorgen; so gilt es
Nechenschaft und Verantwortung.

Gewiß haben diese Menschen
schwere Stunden, wenn sie träumcn,
ihr Talisman sei unecht. Aber zur
Zuversicht erweckt sie der Lärm der
Waffen und dcr Zuruf der Freunde.
So kämpfen sie, glauben an sich und
fordern von uns, an sie zu glauben.

Das sind die Menschen, deren
Bücher wir lesen.

Aber wir, die Leser, blättern dann
und wann nachdenklich in ihren
Büchern und sühlen uns in dieser
Kunst nicht heimisch. Es ist eine
Welt unter der Lupe, ein Mario-
nettentheater als Weltbühne. Alles
ist übersetzt, aus die Spitze getrieben.
Kleine Erlcbnisse und Empfindungen
zu Problemen und Ereignissen auf-
geblasen, halbfertige Charaktere ins
Licht gesetzt und zergliedert, schwan-
kcnde Jnteressen zu Konflikten er-
hoben; selbst die Sprache scheint,
Satz vor Satz, eine Uebertragung
alltäglicher Redcnsarten in priester-
lich gehobene odcr abgerissen saloppe
Stilistik. Wir fühlen, daß diese Li-
teratur aus zahlreichcn Vorausset-
zungen, Abmachungen und Konvcn-
tioncn ruht, die den Berufsgenossen
geläufig, uns fremd sind, wir müssen
vermuten, daß diese Leute nur sür
einander, nicht für uns, die Leser,
schreibcn wollten, daß sie viclleicht
nur einen neuen Beweis ihrer Jndi-
vidualität zu geben gesonnen waren.

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