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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 24 (2. Septemberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Mörikes Lyrik
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Stern, Adolf: Mörikes Prosa
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0631

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tasie. Müssen doch Mauern von nüchternem Wissen, Pfeiler von trock-
nen Erkenntnissen beiseite geräumt werden, bis die bauen und be-
völkern kann. Der kleine Poet beansprucht das nicht, weil er nur
auf den wenigen Tasten spielt, die allen Zeiten bequem liegen; der
Surrogatpoet noch weniger, weil er nicht mit dem Bannen von An-
schauungen aus den Tiefen hervor, sondern mit den Reizen leicht-
flüssiger Gefühlsverbindungen wirkt. Der große Lhriker aber sorgt sich
nicht um die Mühen dessen, der ihm folgen will, während seine Phan-
tasie doch lahmt, denn er, der Starke, schafft naiv, das heißt: er ant-
wortet den Eindrücken nur mit seiuer Personlichkeit selber.

Als David Friedrich Strauß zurückblickte auf die Tübinger Stu-
dentenzeit, die auch diesen Stiftler mit Mörile zusammenführte, be-
schrieb er, wie er auf seine damaligen Genossen wirkte. „War Waib-
linger imposant, so erschien Mörike rätselhaft. Er blendete schon des-
wegen nicht, weil er stch entzog. Nur wurde es Einem einmal so
gut — das hielt aber schwer —, in seine Nähe zu kommen, und, war
er ernst, von seinem aus inuerstem Seelengrunde heraufquellendcn
Worte getroffen, oder in heiterer Stunde von seincm unvergleichlichen
Talente humoristischer Mimik fortgerissen zu werden: man wußte nicht,
wie einem geschah; au die Geniefrage dachte man gar nicht, so wenig
als Mörike selbst daran dachte, das aber wußte man, fast nöch ohne
seine Gedichte zu kennen, daß hier ein Dichter sci. Ja, Mörike ist
für uns alle, die sein Wesen mittelbar oder unmittelbar berührt hat,
das Modell dessen geworden, was wir uns unter einem Dichter denken.
Jhm verdanken wir es, daß man keinem von nns jemals wird Rhetorik
für Dichtung verkaufen können; daß wir allem Tendenzmäßigen in
der Poesie den Rücken kehren; daß wir Gestalten verlangen, nicht
über Begriffsgerippe künstlich hergezogenc, sondern so wie sie leiben
und leben, mit einem Blick vom Dichter erschaut und ins Dasein
gerufen. Ja, Mörike ist Dichter, jeder Zoll ein Dichter, und nur
Dichter."

Man sieht, der Mensch und der Dichter Mörike werdcn Strauß
unwillkürlich zu einer Einheit. Eine Einheit waren sie ja auch im
Leben. Auch der Dichter „entzieht sich" heute noch den mcisten, auch
„hält es schwer", „in seine Nähe zn kommen", und noch hcute „weiß
nicht wie ihm geschieht", wem es „so gut wird". Für viele bedeutet
das Eindringen in Mörikes Lyrik, das besonders Hugo Wolfs Töue
jetzt erleichtern, eine höchste Uebcrraschung, die Offenbarnng einer
neuen Welt. Wer Mörike erfaßt, dem erschließt sich mit einem Schlage
das Wunderland echter Lyrik überhaupt, das mit so dichtem Vers-
gestrüpp auf allen Seiten umwuchert ist. Und vielleicht liegt Mörikes
größte Mission in dem leuchtcnden Wegweisen durch diesen verzauberten
redenden Wald zu der verlorenen Kirche darin. A.

jVIörikes sk>rosa.

Wenn man vom Prosaiker Mörike sprechen soll oder will, so
hat man zunächst das Gefühl eines innern Widcrspruchs, wenn nicht
eines völligen Widersinns. Beruht doch alle Bedeutung des schwäbischen
Lyrikers darauf, daß er Dichter im höchsten und ausschließlichstcn Sinn

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Runstwart
 
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