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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 12 (2. Märzheft 1905)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0905
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Saiten holder Jugendseligkeiten in
ihr anzurühren versteht, pflückt in
einer heißen Stunde der Gefühls-
und Gewisfensverirrung die Früchte.
Aber kaum ist der Verrat an ihrer
Frauen- und Mutterehre geschehen,

so steht auch schon wieder ihr besse-
res Selbst dagegen aus. Wäre sie
nur das „Schusselchen", sie würde
über den Fehltritt, der keine ver-
räterischen Zeugen hatte, hinweg-
tänzeln. Daran denkt sie aber nur
eine flüchtige Sekunde. Dann treibt
sie das Gewissen zunächst zu ihrem
Vater, bald daraus zu ihrem Manne.
Dem gehen nun endlich die Augen
auf über die wahre Natur seines
Weibes, das ihm bisher nur war,

was es schien: ein Spielzeug und
Zeitvertreib. Er erkennt den sitt-

lichen Ernst auf dem Grunde ihres
Wesens, und diese Erkenntnis wird

ihm selbst zu einem Wendepunkt.
Jn verzeihender Güte, mit der er
zugleich seine eigene Schuld straft,
nimmt er die Ungetreue nun erst
wahrhaft an fein Herz, überredet
sie, bei ihm und den Kindern aus-
zuharren und den Sinn der Ehe zu
erfüllen. Es ist das von Reicke
schon wiederholt behandelte Thema,
das hier wiederkehrt: ein vom Leben
Getäuschter oder an ihm schuldig
Gewordener zimmert sich, allein oder
mit Hilfe anderer, aus den Trüm-
mern seines zerschlagenen Glückes
ein neues Fahrzeug, mit dem er,
in Wehmut froh, abermals aufs
Meer hinaussegelt. Wir stehen hier
vor einem ernsten Werk und einem
ernst strebenden, männlich reifen
Künstler mit einer gefestigten, wenn
auch nicht besonders starken Weltan-
schauung. Nicht allen Schwierigkei-
ten, die sich der Dichter auftürmt,
zeigt sich seine Psychologie und seine
dramatische Geschicklichkeit gewachsen,
zumal die doppelte Wendung, die in
seiner allzu komplizierten Heldin vor
sich gehen soll, weiß er uns nicht

überzeugend zu machen, aber da-
für hat man bei dieser „Tragi-
komödie", wie felten bei einem mo-
dernen Ehedrama deutscher Her-
kunft, die Gewißheit, nirgends vor
Konstruktionen, sondern überall vor
einem ehrlichen, andächtig sich hin-
gebenden Nachschaffen des Lebens
und feiner Jrrgänge zu stehen! Und
dabei leuchtet aus dem Werke von
Anfang bis zu Ende ein so liebe-
volles Verstehen aller menschlichen
Schwächen und Unzulänglichkeiten,
ein so stiller, gütiger Humor, daß
endlich einmal der so oft mißbrauchte
Titel „Tragikomödie" seinen Sinn
erfüllt.

Gerhart Hauptmann ließ
mit dem „fälligen" Jahresdrama
diesmal außergewöhnlich lange war-
ten. Vielleicht bleibt es überhaupt
aus. Darüber zu klagen, wären wir
die letzten; denn nichts möchte der
aufrichtige Freund dieser wertvollen,
aber schonungsbedürftigen Begabung
mehr wünfchen, als daß ihr eine län-
gere Pause zur Sammlung und Ver-
tiefung ihrer Kräfte vergönnt sei.
Aber das Theater ist nun mal ein
unerbittlicher Tyrann. Es fordert
seinen Zoll auch von dem ruhenden
Baum. Nicht genug, daß Haupt-
manns Freund Brahm, der jetzige
Direktor des „Lessingtheaters", in
diesem Winter nicht weniger als drei
ältere Hauptmannische Stücke in
neuer Einstudierung oder Bearbei-
tung herausbrachte („Biberpelz";
„Weber"; „Florian Geyer"), auf
seinen Einfluß ist es doch auch wohl
zurückzuführen, daß der Dichter fich
jetzt entschloß, eine bereits zu Anfang
j896 entstandene dramatische Arbeit
aufführen zu lassen, die „Entwurf"
geblieben ist und auf deren Weiter-
bildung er ein für alle Mal ver-
zichtet hat. Vielleicht wäre es besser
gewesen, wenn die Veröffentlichung
dieser Arbeit auf die Buchausgabe
beschränkt geblieben wäre, wie es mit

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