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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 13 (1. Aprilheft 1905)
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Avenarius, Ferdinand: Menzel
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Moderne Märchen: zum hundertsten Geburtstage Christian Andersens (geb. 2. April 1805)
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0017

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nur zum Nutzen geworden ist. Ob die Zukunft die Gipfelung seines
Schaffens nicht in einem andern seiner Lebens-Jahrzehnte liegen sehen
wird, als die heutige Kritik tut.

Aber nur um ein Vergleichen oon Höhen miteinander lvird es
sich dabei handeln, die alle bis in die klarsten Lüfte getürmt sind,
um ein Vergleichen, das, sür die Psychologie des Schaffens höchst
interessant, für die Bewertung der einzelnen Höheu dieser felsensichern
Kunst doch wohl nur Nebensächliches besagen kann. Jahrzehnte lang
ist derselbe Mann Deutschlands einziger wirklicher Historienmaler ge-
wesen, der zugleich sein größter Jllustrator war. Weder dort noch
hier hat ihn bis heute irgendwer erreicht. Er war der größte Maler,
den ein ganzes Jahrhundert hindurch der deutsche Norden hervor-
gebracht hat, und, an Stofsen schier unerschöpflich, an Charakteristik
der geistvollste aller Maler-Realisten nicht nur Norddeutschlands, nicht
nur Deutschlands, nein, des ganzen Jahrhunderts überhaupt. A

1>Iockerne Marcken?

Zum hundertsten Geburtstage Lhristian Andersens
(geb. 2. Axril ^805)

„Wir brauchen moderne Marchen. Was sollen wir mit Schnee-
wittchen und dem eisernen Heinrich! D s ist veraltet. Für dergleichen
Vergiftungen, wie sie in Schneewittchen vorkommen, haben wir jetzt
viel zu geschickte Aerzte. Und daß auch der Frosch geehrt sein will,
lehrt uns viel eindringlicher die moderne Naturwissenschaft, als das
alte Märcheu. Aus diesem alten Märchen lernt das Kind nur das
unselige Träumen und Wünschen, das es verhindert, nachher sest im
Leben zu stehen und zu arbeiten, statt zu phantasieren.

„Nein, unsre Märchen seien die Lokomotive und das Telephon!
Die Wunder der Steinwelt und der Sternwelt, das Urmeer und die
Entwicklungsgeschichte! Unsre Kinder sollen Wirklichkeitssinn bekommen!
Und sind sie nicht Märchen, Lokomotiven und Telephon? Wie mau
sie dort hinsliegen sieht, hinter den feurigeu Augeu her in die Nacht,
als ob der Teufel sie trüge. Oder wie unsichtbar an deinem Fenster
vorbei die Worte fliegen, nicht bloß Gedanken, die nirgends anlanden,
sondern Worte, die gehört und beantwortet werden. Wie Geisterrede
geht es vor dir vorbei. Oder der Kampf der geflügelten Drachen mit
den ersten Wirbeltieren. Welche Heldenepen wollen damit wett-
eisern!" . . .

Nun wollen wir, um hierüber zur Klarheit zu kommen, vor allem
eine Unterscheidung anbringen und demnächst eine Feststellung, die
wir für die Feststellung einer Tatsache halten.

Die Unterscheidung ist zwischen märchenhafter Empfindung und
Märchen. Es ist ein verzehrender großer Unterschied, ob man beim
nächtlichen Hinfahren eines Eisenbahnzuges eine märchenhafte Emp-
findung hat, oder ob man ein Märchen von der Eisenbahn ersinnt
oder erzählt. Jeder Heringe bändigende Jüngling, wenn cr aus
dem Walde kommt, wird Waldgenuß mitbringen; ist er darum schon
ein Waldprodukt? Was das Märchen uns geben soll, ist freilich die
Fähigkeit märchenhafter Empfindung und Stimmung. Eins ist aber

4 Rrmstwarl XVIII, (3
 
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