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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

DOI Heft:
Heft 17 (1. Juniheft 1905)
DOI Artikel:
Halm, August Otto: Bruckner als Melodiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0289

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Srnn. Noch mehr Unterschied zeigt sich in Hinsicht aus die Verständlich-
keit der einzelnen Schritte und Sprünge der Melodie, insofern solche in
der Harmonie begründet sind. Daß hier der harmonisch Gebildete einen
Vorteil vor dem nicht Gebildeten voraus hat, steht fest — ob er den Vor-
teil ausnützt, ist sreilich eine andere Frage. So mancher benützt seine
harmonischen Kenntnisse mehr dazu, um zu korrigieren oder abzuweisen,
anstatt dazu, daß er leichter und besser verstehe: sodaß er gerade im
Verständnis demjenigen nachsteht, welcher ohne Kenntnisse, aber auch im
Bewußtsenr dieses Maugels aus ein Verstehen des Formellen vorweg ver-
zichtend, sich nur der seelischen Wirkung hingibt.

Es ist durchaus zu unterscheiden zwischen dem, was wir als „naive"
Melodie bezeichnen könnten, und der Melodie als einem größeren Ganzen,
einem künstlerischen Organismus. Die naive Melodie wäre diejenige, welche
eine auch dem Nichtmusiker unmittelbar verständliche Sprache führt und als
abgerundete Einheit von ihm leicht gesaßt werden kann. Die dazu erforder-
liche harmouische Einfachheit und übersichtliche Form wäre deutlicher als
Bescheidung mit dem Primitiven zu bezeichnen. Als Gegensatz zur naiven
Melodie hütten wir die künstlerische — als Gegensatz, nicht als Gegenteil!
Sie hat dieselben natürlichen Entstehungsgesetze, verdankt aber einem be-
wußteren Schaffen und Formen, Bauen und Gliedern ihr Dasein. Die
erstere setzt mehr Laune und Glück des Einfalls (wenn sie gut gelang),
die zweite außer oder nach dem „Einfall" eine ernste künstlerische Arbeit
voraus, wobei es nicht darauf ankommt, ob die einzelne Melodie in heißem
Ningen um die Form und Gestalt gewonnen wird, oder ob sie als mühelos
scheinender Ausfluß einer künstlerisch durchgebildeten Persönlichkeit ins Leben
tritt. Die naive Melodie hat den Reiz der Form, die künstlerische hat außerdem
noch etwas Höheres, nämlich Stil; ihre Einheitlichkeit ist tiefer begründet,
sie ist mehr als nur Gleichförmigkeit. Die naive Melodie kann sehr wert-
volle Gebilde schaffen, sie kann nicht nur als glücklicher Fund erfreuen,
sie kann nicht nur graziös, reizvoll und liebenswürdig, sondern auch die
Trägeriu eines echten und tiefen Fühlens sein. Die Gefahr, die ihr mühe-
loser Genuß in sich birgt, ist aber, daß sich der Hörer der geistigen An-
spannung entwöhnt, ja durch Mangel an Uebung seine Spannkraft gar
nicht dazr: stärkt, einer großzügigen Melodie, dem weiten Schwung ihrer Linien
zu solgen. Die Kunstmelodie verlangt eine gewisse Kunst der geistigen Atem-
führung von dem, der sie bilden und von dem, der sie genießen will. Darin
liegt wohl die Erklärung sür das Wunder, daß der größte Melodiker, den
wir kennen, nämlich Joh. Seb. Bach, in dieser Eigenschaft kaum, jedenfalls
ungenügend geschätzt ist. Meist denkt man vorzugsweise an Fugen, wenn
man seinen Namen hört, und doch sind in den Arien seiner Passionen,
Kantaten, in den langsamen Sätzen seiner instrumentalen Werke die reichsten
Schätze von Melodien geborgen; der Mittelsatz des italienischen Konzerts
z. B. ist an blühender Melodik gar nicht zu^übertrefsen. Aber freilich:
beguem zu sassen sind diese Dinge nicht; und außerdem sind sie so vornehmer
Natur, daß durchaus Energie dazu gehört, um sie in sich aufzunehmen:
die Energie einer geistigen, nicht minder aber auch die einer sittlichen
Arbeit, welche uns auf ein höheres Niveau erst heben muß. Denn was
mit geistiger und sittlicher Energie geschaffen ist, erschließt sein Schönstes
und Bestes nicht dem Trägen.

Aus diesem Grunde konnte es niemals eine „Mode Bach" geben; und
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