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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 19 (1. Juliheft 1905)
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0443

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„nur" auf die Stimmung. Deshalb gliedert er — wir bitten den Leser,
Mörikes Gedichte aufzuschlagen — die Aeußerungen des Dichters strophisch:
ein Thema geleitet alle vier Abschnitte. Aber in welch weiser Ordnung
und Entwicklung! Der erste und vierte Abschnitt, bis — Haus, Dämmerung
haben wörtlich gleiches Begleitspiel (mit einer geringfügigen Ausnahme).
Die zweite Strophe wiederholt das Thema in andern Tonarten, die dritte
variiert es und bereitet so den Eintritt der Wiederholung vor. Wie fein sind
damit dichterische Werte gerettet, musikalische geschaffen!

Das instrumentale „Thema" selbst: es dehnt sich über 20 symmetrische
Takte. Enger zusammen gehören vier, dann zweimal zwei, wieder zweimal
zwei (gleiche!) Takte — mit dem Wort Liebe ist der Schwerpunkt oder
Höhepunkt erreicht — und nun klingt eine Figur der mittleren Periode
(Takt 9—(2) in sanften Wellen aus: zweimal vier Takte. An dieser Themen-
bildung scheint mir das überzeugend Geniale, daß der knappste Ausdruck
erst im Fluß der Entwicklung gefunden, daß er dann zu einem groß-
artigen Verklingen erweitert wird (Vur — Noll!). Man beachte auch die
Ruhe der ersten vier Takte, die wachsende Leidenschaft durch die Zer-
trennung in hälftige Gruppen zu zwei Takten, endlich die sich brechende
Empfindungswelle bei: wo du bleibst, und dann ihr Verfließen! Die acht
letzten Takte klingen besonders zauberisch durch die sinkenden Akkorde des
Basses. Phrasierung: mit dem dritten Viertel der rechten Hand srisch einsetzen
— selbstverständlich! — aber es wird viel gegen diese Selbstverständlichkeiten
gesündigt. Jn den acht abfließenden Takten der ganzen Gruppe hat der
Tondichter ein gutes Mittel der umbiegenden Ueberleitungen und der Ver-
änderung: die zweite Strophe klingt anders aus! Ein kurzer Uebergang
führt zur dritten Strophe, in welcher die sehnsüchtige Figur im Baß durch-
geführt wird; in der linken Hand gehören viermal je 8 Takte zusammen
(nach „tun" wird der achte unterdrückt) — in der rechten wird anders
gegliedert. Der Leser möge es genau durchdenken und durchempfinden,
mit welcher Kunst die obere Gegenstimme, meist in weichen Sexten, herab-
klingt: man sieht die Wolke und den Fluß unten. Vor: „als schliefen
sie ein" wird die sehnsüchtige Figur zerdehnt; man vergleiche damit die
Takte 9 und (0, welch sinnvolles Anderslauten! Nicht genug weiden kann
man sich an den sechs Takten, die zur vierten Strophe überleiten: in ihnen
stecken, leicht erkennbar, doch nur fernher klingend, die Hauptbestand-
teile der ersten Strophe (Takt 5, 6 und 9)- Daß nach der Wiederholung
(H. Strophe) der Schluß: „Alte unnennbare Tage" eigene Prägung haben
mußte, leuchtet ein; das breit Akkordische hebt sich von der bisherigen

Thematik prachtvoll ab. Das Ganze, zwischen einfacher Liedform und mehr-
themigem Sonatensatz stehend, erscheint als ein selten vollendetes Zeugnis
der Genialität Wolfs.

Die Linien der Singstimme haben, für sich betrachtet, wunderbaren
Reiz. Vielleicht fühlt man das „absolut" Musikalische am leichtesten heraus,

wenn man die Geige zur Hand nimmt und die Melodie allein oder mit

dem Klavier zusammen spielt. Man beachte z. B. den Wohllaut in:
„Frühling, was bist du gewillt, wann werd ich gestillt?" oder in „Die
Augen, wunderbar berauscht, tun, als schliefen sie ein". Das zweite ist,
sich zu freuen, wie die Melodie aus dem Werke des Dichters geschöpft ist,
so ungekünstelt und rein, daß sie aus den Worten aufzusteigen scheint

wie der Duft aus der Blüte. Wie selbstverständlich, aber wie kunstvoll

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