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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 20 (2. Juliheft 1905)
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Arend, Max: Paris und Helena von Gluck
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0466

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Stransky.* Ein verschärfter Antrieb, das Original vorher eingehend
zu studieren. Was aber sollte mir über diesem Studium aufgehen!
Daß wir in „Paris und Helena" eines der edelsten Dramen
aller Zeiten nnd das originellste, vielleicht auch das
beste Werk des großen Tragikers vergessen haben! Jch bin ge-
halten, dieses, wie ich zugeben muß, außerordentlich paradoxe Urteil
zu begründen.

Gluck verlegt die Handlung beinahe ganz in das Jnnere
der handelnden Personen, genau so, wie es der letzte Wagner tut.
Die äußere Handlung hat nur den Zweck, einen Rahmen für die
innere zu geben und ihren Fortschritt sichtbar festzustellen. Man
wende nicht ein, daß Gluck ja nicht den Text gemacht habe, sondern
Calzabigi: einmal ist es bekannt, einen wie großen Einfluß der
Wille Glucks auf die Gestaltung seiner Textbücher gewonnen hat,
und ferner bedeutet die Glucksche Musik eine vollkommene Neu-
schöpfung der Dichtung, wobei es der Komponist in der Hand hatte,
ob er die innere oder die äußere Handlung mit größerer Liebe be-
handeln sollte. Gluck hat sich rein in die Seele der beiden Helden
seines Dramas versenkt. Ja, er hat dies, wie das Vorwort zu
„Paris und Helena" zeigt, mit bewußter Rücksichtslosigkeit getan;
nur ein Genie konnte Kraft sammeln zu solcher Weltabgeschiedenheit.

Die Aufgabe war: alle Phasen der Liebe darzustellen, der Liebe,
welche über das Liebespaar als Verhängnis kommt und die Gesetze
der umgebenden Welt bricht. Wir sehen Paris zuerst als den gleich-
sam vor der Heiligkeit der Liebe inbrünstig erzitternden Schwärmer
in der berühmten ersten Arie „O meiner süßen Glut". Er kennt die
Geliebte noch nicht: die Göttin der Liebe selbst hat ihm das schönste
Weib verheißen und sein Herz für dieses Weib entflammt. Seine
Liebe ist überirdischer Herkunft und Natur — Glucks Musik läßt
uns das unschwer empfinden. Dann sehen wir Paris in allen Zu-
ständen der Leidenschaft, wie sie sich nach und nach auseinander ent-
wickeln: er ist srohgemuter kecker Hoffnung, verzweifelt, als er die
ganze Sprödigkeit Helenas sieht, er durchbricht in den Liebes-
szenen alle Schranken der Leidenschaft: fiebert, wird ohnmächtig,
ist frivol, will sich selbst töten, und schließlich kräftigt ihn die sieg-
reiche Liebe Helenas zu dem Manne, der sogleich die Herrschaft über
das geliebte Weib ergreift. Eine unerhörte Kühnheit des musikalischen
Ausdrucks sei besonders hervorgehoben, die Aposiopese (Ver-
schweigung) in der Arie Nr. „Jch dich vergessen!" Helena hatte
ihn angefleht, sie, zur Schonung ihrer Seelenruhe und ihres Lebens-
glückes, zu fliehen. „Kein streng Gebot ist's, flehend nur steh' ich
vor dir!" Und nun Paris: „Jch dich vergessen!" Er malt sich, ganz
versenkt in seine Gefühle, das „zarte, holde Götterbild" der Ge-
liebten aus und gerät dabei dermaßen außer sich, daß er sich mitten
im Worte (ä'avants) unterbricht und in den Anfang fällt: „Jch dich
vergessenü" Nicht der Textdichter, Gluck hat dies getan! Nie hat

* Jn der Beilage zum Harnburgischen Korrespondenten vom Z. Februar
(905 Nr. 62 ist Stransky auch schriftstellerisch für das Werk eingetreten, das
er schon (90( in Prag aufgeführt hatte.



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Runstwart XVIII, 20
 
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