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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1905)
DOI Artikel:
Brandt, Georg: Das Lied und sein Text
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0526

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strieren" diesen und wollen nicht mehr. Umgekehrt wird niemand
daran denken, etwa eine Rembrandtische Kreuzabnahme als eine Jllu-
stration zu der betreffenden Stelle des Evangelisten anzusehn. Der
Unterschied liegt hierbei, natürlich abgesehen von den künstlerischen
Persönlichkeiten, einsach darin, daß in dem einen Falle die Malerei
oder die Grisfelkunst nls Hilfskunst in den Dienst der Poesie tritt,
während sie sich im andern Falle von der Dichtung nur anregen
läßt und kein Jota ihrer Selbständigkeit nnd Eigenart aufgibt. Sollte
es vielleicht anch Gedichte geben, die — nach dieser Analogie — ihre
Selbständigkeit als Kunstwerk aufgeben, wenn sie in ein Verhältnis
zur Tonkunst treten, indem sie komponiert werden? — Man wird
wohl schon merken, in welchen Bahnen diese kleine Untersuchung wan-
delt: nämlich in der Versolgung Lessingscher Spuren. Es ist sehr
erklärlich, daß Lessing als Kunstkritiker gerade in unsrer Zeit von
Vielen sehr über die Achsel angesehen wird. Er erblickte ja sür jede
Kunsr das Jdeal darin, daß sie sich streng in ihren Grenzen halte,
daß sie nur mit den ihr eigentümlichen Mitteln wirke; wir dagegen
haben es in der Niederwersung aller Schranken an den Grenzen der
verschiedenen Künste gegeneinander bereits bis zum „riechenden Liede"
gebracht. Lessing hat bekanntlich in seinem „Laokoon" nur von Poesie
und Malerei gehandelt; aber es sindet sich in „Anhang und Mate-
rialien zum Laokoon" auch einiges über das Wechselverhältnis von
Wort und Ton, nur eine ziemlich kurze Notiz, ein unter den Tisch
gefallener Brosamen; aber ich glaube, er reicht gerade hin, um über
einige künstlerische Dinge zu klären. Die Sätze Lessings führen uns
mitten in unsre Frage hinein; sie lauten: „Beider (Poesie und Ton-
kunst) Zeichen* wirken zwar in der Folge der Zeit, aber das Maß
der Zeit, welches den Zeichen der einen und den Zeichen der anderen
entspricht, ist nicht einerlei. Die einzelnen Töne in der Musik sind
keine Zeichen, sie bedeuten nichts und drücken nichts aus; sondern
ihre Zeichen sind die Folgen der Töne, welche Leidenschast erregen
und bedeuten können. Die willkürlichen Zeichen der Worte hingegen
bedeuten vor sich selbst etwas, und ein einziger Laut als willkür-
liches Zeichen kann so viel ausdrücken, als die Musik nicht anders
als in einer langen Folge von Tönen empsindlich machen kann. Hier-
aus entspringt die Regel, daß die Poesie, welche mit Musik verbunden
werden soll, nicht von der gedrungenen Art sein muß; daß es bei
ihr keine Schönheit ist, den besten Gedanken in so wenig Worte als
möglich zu bringen, sondern daß sie vielmehr jedem Gedanken durch
die längsten, geschmeidigsten Worte so viel Ausdehnung geben muß,
als die Musik braucht, etwas Ahnliches hervorbringen zu können.
Man hat den Komponisten vorgeworsen, daß ihnen die schlechteste
Poesie die beste wäre, und sie dadurch lächerlich zu machen geglaubt.
Aber sie ist ihnen nicht deswegen die liebste, weil sie schlecht ist,
sondern weil die schlechte nicht gedrängt und gepreßt ist. Es ist aber
darum nicht jede Poesie, welche nicht gedrängt und gepreßt ist,
schlecht; sie kann vielmehr sehr gut sein, ob sie gleich sreilich, als
bloße Poesie betrachtet, nachdrücklicher und schöner sein könnte. Allein

* „Zeichen" hat bei Lessing einen prägnanten Sinn, etwa — Mittel der
Darstellung.



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llunstwart XVIII, 2s
 
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