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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

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Heft 10 (2. Februarheft 1906)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0679

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Spürer, nach, aber er lasse sich dabei gar zn leicht auf Seitenpfade locken,
weit ab von dem Ziel, das er einmal hat anfdämmern sehen, das ihm dann
bei der Ausführnng aber nur hin nnd wieder einzelne verlorene Strahlen
znsendet.

So, denk ich mir, ist es Hauptmann auch bei seinem neuesten Märchen-
drama gegangen. Was ihm im Augenblick der frühesten Empfängnis vor-
geschwebt hat, ist, zumal wenn wir uns seiner eigenen Andeutungen be-
dienen, nicht gerade schwer zu erfassen. Es reizte ihn, um es ganz kurz
zu sagen, das verschiedene Verhältnis der verschiedenen Menschheitsstufen
zu dem ewig bewcglichen Jdeal der Schönheit zu versinnbildlichen. Pippa,
das „liebliche Kind von Murano", das auf die schlesische Erde verschlagen
ist und dessen eigenstes Wesen sich im wcniger kunstvollen als nachtwand-
lerischen Tanze offcnbart, ist jenes traumhaft verschleierte Etwas, das vor
allen schönheitsdurstigen Seelen „in schönen Farben oder anmutigen Be-
wegungen" hin- und hertanzt, mögen sie sich über die Erfüllungsart dieser
ihrer Sehnsncht nun mehr oder weniger klar sein, sic nur dumpf ahnen
oder sie hinter trüben Leidenschaften mit schuldiger Hand verschleiern. Ganz
und auf di^ Dauer wird sie keinem zuteil; in dem Augenblick, da der von
ihrer Gnnst Begnadete dic innigste Vereinigung, den dauernden Bund mit
ihr zn schließen gedenkt, sinkt sie tot dahin, ihm zum Troste aber wandelt
ihr Schatten, die Jllusion, mit ihm die ferneren Pfade seines Lebens. Be-
zeichnend sind die Vorstellungen und Anschaunngen, die die verschiedenen
um sie werbenden Abstufungen des Menschentums von ihr haben. Der noch
halb im Tierzustand steckende alte Glasbläser Huhn, der um die erloschenen
Feuer seines Hüttenwerkes trauert, sieht in ihr geradezu das letzte Fünkchen,
das aus der ersterbenden Weißglut sprang, ehe der geliebte Ofen für immer
erkaltete. Der sinnliche Genußmensch und Durchschnitts-Erdensohn, den der
Glashüttendirektor vertritt, freut sich an den noch halbverschlossenen, um so
ahnungsvolleren Reizen des an der Schwelle zur Jungfräulichkeit stehenden
Kindes. Der in halb überirdischer Kraft und Schönheit, im Dufte einer
neuen Jugend blühende Greis Wann, der, reifer und lichter Weisheit voll,
in Schnee nnd Eis resigniert hat und nur auf dcn Eintritt in eine „andre
kosmisch-musikalische Brüderschaft" wartet, bcgrüßt in ihr ein Fünkchen aus
den Paradiesen des Lichtes, eine-von allen irdischen Gewändern befreite,
ganz wesenhaft gewordene Erscheinung, die aus dem Märchen kommt nnd
wieder ins Märchen zurückfließt. Mitten zwischcn diesen verschieden abge-
stuften Menschen steht Michel Hellriegel, der wandernde Handwerksbursche aus
dem Schwabenlande. Er hat noch nicht die entsagende Reife und Ueber-
legenhcit der „mythischen Persönlichkeit" Wann, die nnr einen kurzen Angen-
blick von dem unwiderstehlichen Zauber Pippas überwältigt wird, um dann
schmerzlos zn verzichten; er drückt das Seelchen unter eincm herzhaften
Kusse an seine Brust und macht es kurz entschlossen zu seiner Wander-
gefährtin — aber er hat in seiner reinen Parzifal-Torheit, in der kcuschen
Einfalt seines Herzens und der schwebenden Leichtigkeit seiner Phantasie
auch nichts mehr mit den brutalen Jnstinkten des halb noch den Elementen
angehörendcn alten Wald- und Hünenmenschen gemein nnd steht in einer
anderen, höheren Sphäre als der seinem kommenden und gehenden Sinncn-
kitzel untertanc Hüttcndirektor.

Jn diesem Schwabenjüngling hat Hauptmann ein Stück von der deut-
schen Volksseele lebendig zu machen gesucht. Bor allem dcr starke romantische

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