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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,2.1906

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Heft 18 (2. Juniheft 1906)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8629#0351

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Vorsprung von zehn Jahren vor der Mehrheit voraus. Die Mehrheit, die
Masse, die Menge holt ihn nie ein: er kann nie die Mehrheit für sich haben.
Was meine eigene Person betrifft, so habe ich jedenfalls die Empfindung
solch eines nnanfhörlichen Vorwärtsschreitens. Wo ich gestanden habe, als
ich meine verschiedenen Bücher schrieb, da steht jetzt eine recht kompakte
Menge. Nber ich selbst bin nicht mehr da, — ich bin wo anders, weiter vor,
wie ich hosse. (j2. 6. 83.)

(L e b e n s f ü h r u n g) Jn seiner Lebensführung sich selbst realisieren,
das ist, meine ich, das Höchste, was ein Mensch erreichen kann. Diese Anf-
gabe haben wir alle, einer wie der andere: aber die allermeisten ver-
pfuschen sie. (Aug. 82.)

(Der individuelle Konflikt) Die Aufforderung zur Arbeit
ist allerdings ein Leitmotiv von „Rosmersholm". Doch außerdem handelt
das Stück von dem Kampf, den jeder ernsthafte Mensch mit sich selber zu
bestehen hat, um seine Lebensführung mit seiner Erkenntnis in Einklang zu
bringen. Die verschiedenen Geistesfunktionen entwickeln sich nämlich nicht
nebeneinander und nicht gleichmäßig in einem und demselben Jndividuum.
Der Aneignungstrieb jagt vorwärts von Gewinn zu Gewinn. Das Moral-
bewußtsein, „das Gewissen" dagegen ist sehr konservativ. Es hat seine tiefen
Wurzeln in den Traditionen und in der Vergangenheit überhaupt. Hieraus
entsteht der individuelle Konflikt. (j3. 2. 87.)

(S t a m m e s b e w u ß t s e i u) Es kann der Staatsverband, in den
wir einsortiert sind, allein nicht mehr maßgebend sür uns sein. Jch glaube,
das nationale Bewußtsein ist im Begriff auszusterben und wird vom Stammes-
bewußtsein abgelöst werden. Jedenfalls habe ich für mein Teil diese Evo-
lution durchgemacht. Jch habe damit angefangen, mich als Norweger zu
sühlen, habe mich dann zum Skandiuaven entwickelt und bin jetzt beim All-
gemein-Germanischen gelandet. (30. (0. 88.)

Umschau

Bei der Ausdehnung, die heute
die Kritik in unserem öffentlichen
Leben einnimmt, ist es erklärlich,
daß ihre Art und Unart immer von
neuem beleuchtet wird. So schreibt
M. G. Conrad über „Natur und Auf-
gabe der Kritik" (Blaubuch j2): Die
schlechte Kritik sei bei uns des-
halb so gefährlich, weil wir ein
schulgebildetes Lesepublikum haben:
die meisten „Gebildeten" haben ihr
Kunstwissen nicht erlebt. Jn einem
Lande, dessen höchster Fürst sich als
Autorität in Geschmacksfragen gebe,
werde es der Kunst und Kunstkritik
schwer gemacht, „ein Segen für viele
und stärkstes Mittel zur Förderung

einer freien nationalen Kultur zu
sein". Das geistliche Gewand macht
Conrad im voraus jede Kritik ver-
dächtig. Er stellt serner auf Grund
des Richard Wagner-Schimpflexikons
sest, daß unsere sittliche und künst-
lerische Kultur im V- Jahrhundert
mit verbrecherischeu Geguern zu rin-
gen gehabt habe. Er polemisiert
schließlich gegen die „Los von Bay-
reuth-Renommisterei" und mahnt die
Kritik, sich um die Fortsührung des
Bayreuther Meisterwerkes zu be-
mühen.

Karl Scheffler meint im Tag (j28),
der Kritiker werde allgemein als
ein Entgleister betrachtet, „als ein
geistiger Bankerottierer, der Agent

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