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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1906)
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Avenarius, Ferdinand: Zur Weihnachts-Einkehr
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G.: Religiöse Prosa
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0395

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beim Erwachen frisch. Daß sie sich regen, daß es hier vorwärts geht,
hier wenigstens, ich weiß nicht, wie es bestreiten mag, wer das
ästhetische Leben etwa der Gründerjahre und der nächstfolgenden Iahr-
zehnte mit dem der Gegenwart vergleicht.

Aber ästhetische Kultur ist kein Fach. Sie soll so ziemlich bei
allem dabei, aber sie braucht nur sehr ausnahmsweise einmal allein
zu sein. Nochmals: sie ist eine Form. Wissenschaftler mögen defi-
nieren: sie ist eine Methode. Man könnte auch sagen: sie ist
ein Geist. Umfaßt, was ihr treibt, so unschulmeisterlich frisch
wie möglich mit Nerv und Seele, mit Bewußtem und Nnbewußtem
und duldet nicht, daß es euch seinerseits irgendwie beschwindele —
dann habt ihr schon ihr bestes Teil. Dann wird sie euch mit dem
Verlangen nach stetem Gleichklang von Sein und Schein eine Kontrolle
verschaffen für dieses Sein und einen Weckruf mehr, zu bessern.
Drittmals: ästhetische Kultur ist eine Form. Es kann nie davon
die Rede sein, daß sie all das „gäbe", was das Weh der Zeit
verlangt. Wohl aber, daß das Meiste und das Beste davon auf
ihre Weise gegeben werde. Denn nur so nimmt der ganze Mensch
es aus. A

Neligivse Prosa

Religiöse Literatur ist nicht Weltanschauungsliteratur.

In unserm wissenschastlichen Zeitalter ist dies der wichtigste Satz,
der vorausgestellt werden kann, wenn wir uns über religiöse Literatur
verständigen wollen. Die schönsten Theorien über Himmel und Erde,
über Schöpsung und Entwicklung sind noch nicht an sich religiöser Natur.

Das Religiöse hebt stets als eine Auseinandersetzung inner-
halb der Menschen an, und nur soweit diese Auseinandersetzung
alles beherrscht, so weit reicht die Religion. Diese Auseinander-
setzung kann die Form des wilden Kampfes annehmen, die Form
der Versöhnung, die Form des Trostes, die Form des Zur-Ruhe-
gekommen-seins, des sriede- und selbst humorvollen Betrachtens —
der Tenor macht es nicht, sondern daß er aus dem Lchten stammt,
nämlich nicht aus einer Theorie, sondern aus einem Menschen, nicht aus
einer Arbeit des Verstandes, sondern aus der Bewegung des Herzens.

Nicht natürlich, als wollten wir die Arbeit des Verstandes
unterschätzen. Nur daß sie das nicht soll ersetzen wollen, was aus-
einanderzusetzen sie da ist. Nur daß sie sich bewußt bleibe, daß
sie nicht schafsen, sondern nur ordnen kann.

Ganz genau in demselben Sinne, wie wir als ersten und aller-
wichtigsten Satz sür alle Kunstkritik den aufstellen, daß zu scheiden
ist zwischen geschafsenen und ausgerechneten Werken, gesehenen und
erdachten, Werken der Anschauung und Werken des Verstandes. Nur
die geschassenen, gesehenen, die Werke der Anschauung nehmen wir für
voll. Die ausgerechneten und erdachten Verstandeswerke weisen wir ab.
Aber innerhalb der echten, der Anschauungswerke bleibt dem Verstande
seine je nach der Eigenart des Künstlers mehr oder weniger wichtige
Rolle. Es hat Künstler gegeben, denen man kaum zutraut, daß sie je
einen logischen Gedanken hätten zu Lnde denken können, und deren
Werke berühren wie tief aus traumhafter Versonnenheit austauchende

2. Dezemberhest G06 3ts
 
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