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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

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Heft 10 (2. Februarheft 1907)
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Avenarius, Ferdinand: Wahlkampf-Aesthetik
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Gürtler, Franz: Wilhelm Jensen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0694

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Sein. Es ist nicht nur eine Verrohung der äußeren Sitten, die für
unser Volk ohne allen Unterschied die Gewöhnung ans Schirnpfen
und Verdächtigen mit sich bringt. Ls ist ein Schaden an der Volks-
seele selber. Und wir kommen auch politisch schon deshalb nicht vor-
wärts mit diesem Ton, weil er die Massen rechts und links immer
mehr in den Wahn bringt, mit dem Gegner nur Niederträchtig-
keiten zu bekämpfen, statt in erster Reihe Kräste, die an sich außer-
halb von Gut unv Bose liegen, wie alle Kräfte in der Natur, ob wir
sie uns gesellen können oder ob wir fie bekämpfen müsfen.

Wir sind Gott sei Dank auf dem Wege, die Lsthetische Betrach-
tung als etwas Tieferes zu erfassen denn als Rezensiermethode für
„Knnst". Das Auge ist der schnetlste Informator; mit der Lrkenntnis
von der Wichtigkeit der Kultur nicht des Auges allein, fondern der
Kultur durchs Auge find wir verhältnismäßig schon am weitesten
vorwärts. Mit der Ohrenkultur und mit der literarischen geht's lang-
samer. Die des politischen Lebens ist ob all der Verquickungen viel-
leicht von aller ästhetischen Kultur die schwerste. Wird die Erkennt-
nis in absehbarer Zeit wenigstens unter den Gebildeten allgemein
werden, daß wir an ihr alle zusammen, ob wir nun „Iunker" oder
„Pfafsen" oder „Genossen" sein mögen, ein sittliches sowohl wie ein
praktisches Interesse haben? A

WilheLm Jerrfen

Für uns, die wir mit der strengeren Seelenkunde der Poeten
aus der letzten Sturm- und Drangzeit groß und kritisch geworden
sind, ist es nicht ganz leicht, Iensen gerecht zu werden. Wir haben
meist — lang, lang ist's her — einen Roman, ein paar Novellen
von ihm gelesen und entsinnen uns genau unsrer damaligen Be-
geisterung für die fpannende und an starken Stimmungen reiche Ge-
schichte, aber was uns eigentlich an ihr erquickte, wissen wir im
einzelnen überhaupt nicht mehr. Vielleicht, daß eine großartige
Naturszene in uns haften blieb. Nm ein Schiff etwa, das die
Wogen mit gewaltigem Tosen zu verschlingen drohn. (Lin schreck-
licher Schneesturm, in dem irgend jemand beinahe stecken bleibt; ein
Wasferfall, in dem die Sonne blitzt und ein prächtig fchönes Mäd-
chen beinahe ertrinkt; eine verfallene Schloßruine, in der Lulen und
Fledermäuse sich alte Nntaten erzählen. Von den Menfchen, von
ihren bunten Erlebnifsen aber wissen wir kaum noch viel.

Nimmt man nun nach Iahren die alten Bände wieder zur
Hand, so sieht man auch, warum es einem so geht. Denn diese
Menschen mit ihren meist recht bewegten Schickfalen sind, ohne grade
romanhaft zu sein, doch für unser heutiges Gefühl oft etwas gar
zu romantifch. Sie fegeln in der weiten Welt mit einer geschwinden
Leidenfchaftlichkeit umher und finden kaum je den rechten Anker-
grund. Die äußerst rege Phantasie des Dichters treibt sie aber auch
durch weite Zeiten der Vergangenheit mit der gleichen Ansdauer,
fie schüttet einen Reichtum von Linfällen über ihr Lebensschifflein
aus, daß man fich immer wieder ihres schwierigen und verlustreichen
^ Landens in irgend einem stillen Lebenshafen verwundert. Denn

sso Kunstwart XX, !sO
 
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