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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 16 (2.Maiheft 1907)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0245

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Lose Blätter

WeiLeres aus der ältesten germanischen Erzählprosa

sHier soll nicht wiederholt werden, was der Kunstwart im ersten
Märzheft lZ06 zu den alten isländischen Prosageschichten erläutert hat.
Man beherzige besonders die Mahnung, diese Erzählungen im lauten
Lesen zu genießen, nachdeM man sich erst den Inhalt vertraut gemacht
hat, so daß man jeder Gestalt ihre Tonart geben, für das Wichtige und
das Nebensächliche den rechten Grad von Herauswölbung finden und die
vielen kleinen Anspielungen und Spitzsn zur Geltung bringen kann.
Alles ist hier durchaus für mündlichen Vortrag gedacht.

Die hier folgenden drei Erzählungen — sie spielen um das Iahr
sOOO im nordöstlichen Island — haben den Vorzug, daß sie abgerundete
kleine Kompositionen sind; sie werden aus sich selbst verständlich und
spinnen ihren Faden zu Lnde.

Die zweite und die dritte von ihnen bedürfen kaum eines Begleit-
wortes. Es handelt sich um die Darstellung anspruchsloser Begeben-
heiten, die durchaus mit dem Anteil für das Seelische angefaßt sind;
kleine Eharakterstudien: „wie dem großen Gauhäuptling eine Lehre bei-
gebracht wurde" und „wie der eigenwillige Häuptling umgestimmt wurde" —
so könnte man sie überschreiben. Hier dreht es sich einmal nicht um
grimmige Fehden: es ist gemütliche Genrekunst, von Anfang bis zu
Ende von einer geheimen Schalkhaftigkeit getragen. Die bäuerliche Um-
welt in der Rauchtälergeschichte mutet uns naturfrisch an, als wär' es
etwas von gestern. Köstlich kommen in den Reden diese Großbauern
heraus, diese sehr erdenhaften Gestalten mit ihrem Menschlichen-Allzu-
menschlichen. Etwas für Feinschmecker ist die Zwiesprache von Gudmund
und Thorarin in der letzten Novellette: ein Dialog, der sich so den
leisen Gedankenkrümmungen des Alltaglebens anschmiegt, überrascht in
einem Werke aus dem Mittelalter. Es wäre verzeihlich, wenn der Leser
hier an der Ehrlichkeit des Äbersetzers zweifelte!

Andern Schlages ist die erste Erzählung: ernsthaft, gewichtig, schick-
salsvoll. Es ist eine der tausend Abwandelungen des Hauptthemas der
altnordischen Dichtung: wie stellt sich ein rechter Mann, wenn die Ehren-
pflicht der Rache an ihn tritt? Änsre kleine Saga zeigt die isländische
Erzählkunst in ihrer äußersten Verfeinerung, man darf wohl sagen: Ver-
geistigung. Ein Schritt weiter, und wir wären in der Manier und der
Unklarheit.

Die äußern Vorfälle sind ungewöhnlich flach angegeben: „gab ihm
den Todeshieb" . . . „er läßt sie nun begraben" nnd ähnliches, ein ver-
wunderlicher Telegrammstil bei den ernstesten Dingen. In wenigen Sagas
tritt das Innenleben so beherrschend hervor. Der Held, sein Vater und
der Häuptling, was in diesen drei Männern vorgeht, darauf kommt es
an, das Abrige hat nur zu spiegeln.

Aber das Innenleben bekommen wir nur als Zuschauer und Zu-
hörer zu erschließen. Diese Verschweigungstechnik der isländischen Saga-
männer gipfelt wiederum in der kleinen Thorsteinssaga und bringt so
Änvergleichliches hervor wie im dritten Abschnitt das Gespräch zwischen
Vater und Sohn. Man mache sich klar, wie dies in kunstlos-direkter Weise

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