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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1907)
DOI Artikel:
Bartning, Otto: Zur Baugeschichte des letzten Jahrzehnts
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0718

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Zur Baugeschichte des letzten Jahrzehnts

Ich glaube nicht, daß zu irgend einer Zeit so viel und so schnell
gebaut worden ist, wie in der Gegenwart. And in entsprechender Eile
spielen sich die Vorgänge der Abwandlung und Entwicklung ab —
inwieweit zu ihrem Vor- oder Nachteile, mag hier dahingestellt bleiben.
Was vor fünf Iahren vollkommen modern war, gehört heute als
„überwundener Standpunkt" der Vergangenheit an. Da es sich aber
hierbei nicht bloß um willkürliche Moden, sondern auch um solge-
richtige Entwicklung, d. h. um Vorstöße, um Reaktionen und um
daraus entspringende neue Fortschritte handelt, so ist es möglich
und vielleicht nützlich, die Bauentwicklung des vergangenen Iahr-
zehnts schon historisch zu überblicken.

Das Parvenutum, das dem plötzlichen wirtschastlichen Aufschwung
nach dem großen Kriege entwuchs, suchte und fand seinen architek-
tonischen Ausdruck in den protzenhaften, überladenen Renaissance-
Fassaden, die beinah in allen deutschen Städten, an den „Kaiser-
straßen^ und „Bahnhosstraßen", die aber am dichtesten an Berlins
Leipziger- und Friedrichstraße ausschossen. Ein wahrer Tumult von
Säulen, Pfeilern und Pilastern, Rund- und Spitzgiebeln, Simsen
und Balustraden, Masken, Atlanten und Karyatiden wurde da ent-
fesselt, so daß ein nur einigermaßen empsindsames Auge davon ge-
quält und betäubt werden mußte.

Ruhe war denn auch die große Forderung, die vor etwa zehn
Iahren immer deutlicher ausgesprochen, und deren Verwirklichung immer
entschiedener versucht wurde. Nun baute man unter strengster Vermei-
dung all der verhaßten Details, all der verpönten Symmetrie. Man
behandelte ein Haus wie eine Teigmasse, klebte hier ein Stück an,
schnitt dort eins ab und stach einige Fenster- und Türöffnungen
scharskantig heraus. Von diesen amorphen Häusern entstehen noch
heute genug. Wenn ich vorhin von der schnellen Folge der Ent-
wicklungsphasen sprach, so ist dabei nicht zu vergessen, daß eine Phase
damit, daß sie eine neue erzeugt hat, selber nicht stirbt, sie bleibt
neben der neuen, indem sie in die Breite und Tiefe der Bevölke-
rungsschichten weiterwirkt. Ein Gedanke, der einen angesichts der vielen
und verschiedenartigen Phasen schwindeln machen könnte — drum
wenden wir uns wieder der Hauptlinie der Entwicklung zu.

Wenn jene formlosen und formarmen Häuser damals Anklang
fanden und gelegentlich noch heute finden, so verdanken sie das ihren
negativen Eigenschaften. Die protzenhaften Ornamente hatten Auge
und Empfinden verletzt, nun waren sie verbannt, und so hatte der
äfthetische und geiftige Purismus sein Ziel erreicht. Aber weder konnte
das Auge ausruhen, noch der Geift fich freuen an folchem puristischen
Gebäude, dem jegliche räumliche und ftatische Definierung durch hori-
zontal es umziehende Linien, durch rhythmisch wiederkehrende Vertikal-
glieder fehlte, fo daß dem Auge das Bauwerk unbegreiflich blieb;
fo daß es dem Geifte tot bleiben mußte, denn alle Besreiung der
Materie durch Schönheit fehlte.

Die Architekturformen der Fasfadenbauerei hatte man verworfen,
weil sie zur unwahren Spielerei geworden waren. Nun stellte sich

tz Septemberheft l907 607 I
 
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