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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,2.1908

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Heft 10 (2. Februarheft 1908)
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Avenarius, Ferdinand: Schacher im Tempel
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https://doi.org/10.11588/diglit.7705#0263
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Iahrg. 2! Zweites Februarheft 1908 Heft! 0

Schacher rm Tempel

s gibt für eine literarische Kultur kein wichtigeres Hilfsinittel
'in Buchform, als einen literarischen Ratgeber, denn was für
'eine Bücherei der Katalog, das ist er für unser ganzes Schrift--
ium. Er weist dorthin, wo man findet, was mau braucht uud was
^hne ihn vielleicht kaum zu finden wäre. Das gilt sogar von einem
iiterarischen Ratgeber im Verhältnis zur Gesamtliteratur noch in weit
höherem Majze als vom Verzeichnifse zum Benutzen in der Bibliothek.
^enn selbst eine unordentliche Bücherei ist doch immerhin ein körperhast
öegenwärtiges Ding, bei dem man mit Händen und Augen dem Kataloge
uachhelfen kann, und es ist zunächst ja nur der Titel, nach dem man
sucht. gesamten Schrifttum dagegen stecken die Bücher an tausend
und oft den verstecktesten Stellen, und wozu ein literarischer Ratgeber
führen will, das sind nicht die Titel obendrauf, sondern es ist der un--
wägbare Wert mitten im Werk darin. Wer sich vergegenwärtigt, was
Ees an Lebenswerten vermittelt wird durch „das Buch", das Buch rn
irgendwelcher Gestalt, der weiß ohne viel weiteres Nachdenken: es gibt
seine literarische Arbeit, die größeren Ernst und größeres Verantwort-
slchkeitsgefühl verlangte, als die an einem literarischen Wegweiser.

Deshalb ist es beschämend, daß unsre ganze große deutsche Kultur
iahrzehntelang nicht über eiu einziges Buch, nicht über ein einziges
deft verfügt hat, mit dem man wenigsiens ernsthaft versucht hütte,
ü>as hier not tat. Beschämend nicht für unsre schöne Literatur und
^uch nicht für unsre Wissenschaft, aber beschämend, weil es für den
^iefstand unsrer praktischen Volkswirtschaft mit geistigen Gütern fast
3um Erschrecken bezeichnend ist. Seit Klüpfels Wegweiser einge-
schlafen war, der bei all seinen Mängeln doch immerhin ein lrte-
s'arisches Nnternehmen blisb, hatten wir nur die Weihnachtskataloge
ur Deutschland, und die waren geschäftliche Nnternehmen. Sie brach-
wn eine Anzahl kleiner Besprechungen der „Novitäten", Illustrations-
probeu daraus, und vor allem Annoncen, Annoncen. Der Anzeigen-
ieil mußte ja im wcsentlicheu die Kosten decken und den Profrt ver-
schaffen. Als Handelsmittel dienten die Weihnachtskataloge dem
Prinzip des „möglichst schnellen Nmsatzes": die Listen verzeichneten
rlicht etwa die besten, sondern die „gangbarsten" Bücher, und die
Pezensionen lobten, was in der Mode war oder was zu loben ge-
schäftlich ersprießlich schien. Die Bücher von gestern und ehegestern,
steschweige die noch älteren wurden überhaupt nicht bcsprochen. Wirk-
iich, es ist so: die gesamte, durch Kritik schon gesichtete Literatur
sie gab es für diese Weihnachtskataloge überhaupt nicht, wenn
uicht zufällig etwas Älltes gerade im „Berichtsjahr" neu herausgegeben
war. Fnr unsre Großen „im tzintergrunde", von deren Bedeutsam-
keit die eigentlichen Sachkenner schon längst durchdrungen waren,
sür Hebbel, lsteller, Ludwig, Mörike, Raabe usw., an die immer und
iwmer wieder zu erinnsrn die erste Pflicht jedes sachlichen Literatur-
weisers gewesen wäre, für sie haben diese Nnternehmungen fast nichts

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