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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,3.1908

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Heft 18 (2. Juniheft 1908)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7706#0426
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Soester Müller und den Kaplan aus Köln, den Herrn im Reisepelz urrd
auf den Arbeitsmann mit seinem Werkzeug, auf den Studenten und die
kchützend vorgebreiteten Mutterarme und auf den Schoß darunter mit
seinem jungen süß atmenden Leben.

Rundschau

Mythus und Epos

(^aß Mythus und Epos nahe Ver-
--^wanLte sind, weiß jedermann.
Es bleibt aber noch zu sagen, daß
sie nur stoffverwandt, nicht geistes-
verwandt sind, daß die mythische
Poesis und die epische Poesie Dich-
terpersönlichkeiten von verschiedener,
ja gegensätzlicher Naturanlage ver-
langt, daß beiderlei Dichterpersön-
lichkeiten sich nur in den seltensten
Ausnahmefällen in einem einzigen
Menschen vereinigt finden, dann
nämlich, wenn Protcuslust und
Proteuskraft in ihm waltet. Für
gewöhnlich gilt dcr Satz: der mh-
thische Dichter gestaltet keine Epen
und der epische Dichter crfindet
keine Mythen. Warum nicht, dar-
über lohnt es sich, ein Wort zu
reden.

Die mythische Poesie ist
im Urgrund religiöse Poesie, sie
beschäftigt sich mit den Welträtscln
und hat demgemäß einen tiefsin-
nigen, ernsten, schwermütigen Cha-
rakter. Ihre eigenste angemessenste
Form ist die kurze symbolische Er-
zählung, shmbolisch, weil alles Aber-
sinnliche sich nicht anders poetisch
bezwingen läßt, als durch Las Mittel
des Symbols; ohne das Symbol
würde das Abersinnliche abstrus.
Die epische Poesie dagegen ist
durch und durch weltlich, nur mit
dem äußern Erscheinungsglanz des
Lebens sich befassend, Mut, Kraft
unü Abenteuerlust atmend, oft bis
zum Abermut und Scherz. Ein
größerer Gegensatz läßt sich kaum
denken. Wcnn daher die epische
Poesie sich eines vom Mythus vor-

gedichteten Stoffes bemächtigt —
und das tut sie mit Vorliebe, wegen
des tiefen Poesiegehaltes solcher
Stoffe — so muß sie erst den My°
thus verweltlichen, also, vom ge°
danklichen Standpunkt beurteilt, fri-
volisieren. Vor allem wirft sie die
ursprüngliche shmbolische Bedeutung
der Fabel über Bord, falls diese
symbolische Bedeutung nicht ohne-
hin schon von selber in Vergessen-
heit geraten war, und liefert bloß
eine äußerlich glänzende Geschichte,
welche an sich Vergnügen bereitet,
ohne daß der Leser sich der sym-
bolischen Bedeutung mehr bewußt
wird. Aber diese bleibt dennoch als
unsichtbare Wurzel unter der Ge°
schichte lebendig, und der mit dem
Bewußtsein nicht mehr zu spürende
mythische Saft verleiht der Erzäh-
lung noch immer einen eigentüm-
lichen Beigeschmack, der von der
naiven Volksseele geschmeckt wird
und ihr köstlich mundet, ob ihm
auch kein Fühlhorn des Verstaudes
mchr beizukommen vermag. Epische
Gestalten, die aus vergessenen, ver-
dufteten Mythen stammen, leben
länger und leuchten schöner als
andre epische Gestalten. So z. B.
Kalypso und Kirke, Damen von
vornehmstem metaphysischen Adel,
aber vom Epiker entgöttert, ent-
geistigt, frivolisiert. Das homerische
wie das gcrmanische Epos bezieht
seine Helden aus dem Mythus,
aber erst nachdem der Mythus ver-
west war. Und je vollständiger der
Verwcsungsprozeß des Mythus sich
vollzogen hat, um so besser eignet
sich der Stoff für den Epiker. Ge-

2. Iuniheft V08 25H


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