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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 7 (1. Januarheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Verstehen und Nacherleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0018
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lichen Kenner vom sogenannten, wie es den echten Künstler vom Mr°
tuosen unterscheidet: daß jenes Nacherleben beim echten Kenner wie
das Erleben selber beim echten Künstler dabei ist. Oder sagen wir
lieber: es unterscheidet den Kenner und den Künstler aus dem
Vollen, aus dem Ganzen, vom Kenner und Künstler aus der Ober-
fläche, bei der er sich möglicherweise wieder nur auf' eine Seite
beschränkt.

Blicken wir uns nun bei den „Kunsterziehern" um, so werden wir
auf einen, der beim Nacherleben helfen will, drei oder sünf treffen,
die versuchen, dem Verständnis zu dienen. Nnd das ist ebenso, ob
wir im Volksschulzimmer oder im Hochschulhörsale sitzen oder vor
dem Fachblatt oder vor der Tageszeitung. Nnd ist gleich so bei den
feinsten und klügsten Köpfen. Ist es richtig?

Wie es so ward, ist ziemlich klar: die so tnn, arbeiten als Söhne
ihrer Väter. Was gab es vor ein paar Iahrzehnten an „helfenden
Worten"? Bei der Dichtung, von seltenen und zerstreuten Bemer-
kungen abgesehn: Literaturgeschichten, die der gebildete Nichtfachmann
großenteils statt der Dichtungen las. Man war dann „orientiert",
man „wußte Bescheid", anders gesagt: man hatte ein paar Daten
über Schriftsteller und ein paar Kenntnisse über Bücher, die geschrieben
waren — um Leben von Mensch zu Mensch zu tragen! Wo man
„eingehender" schrieb, brachte man „Analysen": Schemata von
tzandlungen, Gerippe, denen die durchbluteten Muskeln ab- und die
innern Organe ausgenommen waren. Oder ästhetische Erörterungen
z. B. über die Technik des Dramas oder sogenannte „Poetiken" —
lauter Schriften, die sich nur ans Verständnis wandten. Für die
bildenden Künste gab's Kunstgeschichten und nochmals Kunstgeschichten,
und dann Rezensionen, deren höchster Ehrgeiz war, als Material für
künfkige Kunstgeschichten zu geltcn. Oder ästhetische Nntersuchungen.
Nnter ihnen sehr bedeutende Bücher, aber immer wieder Bücher fast
oder ganz allein für den Verstand. Zu den besten Lebensgehalten,
die durch die Kunst vermittelt werden, kann aber leider nur Phan-
tasie und Empfinden führen, nie der Verstand.

Das weiß der Moderne, darum sagt er: du sollst überhaupt
nicht darüber schreiben. Das Bild spreche als Bild, der Klang als
Klang, die Dichtnng stehe als Phantasiegebild vor dem Innern auf
— das Reden und Schreiben hilft nichts. Spricht es, setzt sich an
den Schreibtisch und schreibt doch, wie unsre große „kunsterzieherische"
Literatur beweist, immer wieder. Er fühlt eben: das Bild, der Klang,
die Dichtung brauchen eutgegen aller Theorie vorläufig trotzdem noch
des hclfenden Worts. Weil Tausende vor Kunst stehen, die guten
Willens sind und doch nicht „dahinterkommen". Nnd was schreibt
er nun?

Wir wollen euch das Feinste geben, sagen die Kunsterzieher, an
die ich denke, und nun wenden sie sich wieder, dem Wesen uach wie
ihre Vorgänger, ans Verstehen. Bei „Ritter, Tod und Teufel"
klären sie die Leute darüber auf, was eine Radierung und was ein
Stich ist, wie die Linien gehen, wie sich das Licht verteilt, wie Dürer
zunächst Kostümstudien gezeichnet hat, in was für kunst- und kultur-
geschichtlichen Zusammenhängen er stand, und so fort. Beim Lied

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