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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 7 (1. Januarheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Verstehen und Nacherleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0020
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sprechen kann, tu es nicht, bevor die Größe der seelischen Stimmung,
die hier in Dürer lebte, bei seinen Hörern mit solcher Kraft aufer-
standen ist, daß sie durch nichts mehr zerstört werden kann, oder er
führe vom Artistifchen zu diesem Höchsten weiter. Wer das Lied „An
den Mond" literarhistorisch, ästhetisch, psychologisch verstehen lehren
will, sorge dafür, daß dem Hörer der am reichsten nährende Genuß
nicht verkümmert werde, der naive Genuß des Werks. Hundert-
fach können wir beobachten, daß man im Artistischen steckenbleibt.
So sehr, daß manche ernsthaft meinen, der Gehalt, den sie dann meist
mit dem Inhalt, dem stofflichen Gegenstande der Darstellung ver--
wechseln, fei gleichgültig. Um auch von unserm dritten Beispiel, den
Bachischen Fugen nochmals zu sprechrn: es gibt bekanntlich Praktiker
und Theoretiker, die hier ob der Freude am Lindringen ins Artistische,
im engeren Sinne Musikalische, die Lebenswerte dieser Werke über-
haupt nicht mehr fühlen und deshalb leugnen.

Solcher Praktiker und Theoretiker gibt es auf allen Kunstgebieten
zuhauf, ich glaube sogar: viel mehr, als tieferdringende. Es gibt
für Literatur und alle übrigen Künste hochberühmte Geheimräre, die
z. B. über kunstgeschichtliche Themata die gescheitesten Antersuchungen
schreiben und die doch die Lebenswerte der Werke, mit denen sie sich
berufsmäßig und nützlich befassen, gar nicht in sich nacherzeugen
können. Ls sind, sozusagen, Fachleute der Oberfläche: das Herz
bleibt ihnen fremd, uber die Haut schreiben sie Gescheites. Da aber
die Haut schließlich auch vom Herzen genährt wird, ist dieser Zustand
immerhin — sagen wir bescheiden: sonderbar.*

Nun bin ich überzeugt, viele werfen mir auf diese Ausführungen
ein: sind denn überhaupt deine „Lebenswerte" wichtiger, als die im
engeren Sinn künstlerischen? Das bringt mich zu dem zweiten Punkt,
für den ich Beachtung erbat. Allerdings, ich behaupte, sie sind es,
und deshalb müssen sie in der Behandlung vorgehn, wenn beides
nicht vereint werden kann. Im großen Gesamtreich des Menschen-
lebens bedeuten all die artistischen Werte, denen das Verständnis
beikommen kann, wie schön und interessant sie sind, doch nicht mehr,
als meinetwegen die feine Kunstkammer in einem Land, in dem tausend-
fach Milch und Honig fließt, Ernten reifen, Wälder rauschen, Werk-
stätten HLmmern und Menschen schaffen und sinnen. Es zeugt, scheint
mir, von einem fehr bedenklichen Verkünsteln in Zivilisation, daß
wir darüber überhaupt erst sprechen müssen. Wir brauchen eine der
reinsten Freudequellen nicht zu unterschätzen und werden doch sagen:
Die ungeheure Bedeutung der Kunst für die Menschheit liegt wahr-
haftig nicht darin, daß sie uns Objekte zu fein- und feinstfinniger
Vergnügung verschafft, sondern darin, daß sie die Vermittlerin unsres
Hoffens und Sehnens, unsrcs Ahnens, Suchens und Findens, unsres
Wollens und Glaubens, mit einem Wort: die Sprache unsrer Ge-

* Wie ich persönlich mir die Mitwirkung des helfenden Worts zum
Hinführen zu den Lebenswerten in der Kunst denke, davon habe ich u. a.
im Leitaufsatz zu Kw. XVI, s gesprochen. Als an praktische Beispiele, die
ich für ganz vortrefflich halte, sei an die Vogelschen Aufsätze „Gedichte
in der Volksschule" erinnert, Kw. XVIII, fH, 23; XIX, 5.

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