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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 10 (2.Februarheft 1909)
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Erdmann, Karl Otto: Wahrheitswert und Phantasiewert, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0221
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Kleinkram, unfruchtbare Kritik weht dem Leser entgegen. Da wird
in einem nebensächlichen Punkt zunächst mit großem Scharfsinn und
mit einem mächtigen Aufwand von Belegen die Meinung des Z
widerlegt. Mehr Beachtung verdiene allerdings die Ansicht des P,
doch werde auch sie nicht ohne Berechtigung und mit gut belegten
Gründen von X und W angefochten. Aber auch die Konjunttur
von V könne, trotz der beachtlichen Linwände von U, nicht schlechthin
abgewiesen werden. So geht's weiter in mühseliger, unendlich vor-
sichtiger Akribie und ermüdender Breite. Ist es nicht eine Dreistig-
keit, eine solche zähe Kost einem gebildeten Leser zuzumuten? Man
wünscht das plastische Bild einer mächtigen geschichtlichen Persönlichkeit
und wird statt dessen gezwungen, in die Werkstatt eines gelehrten
Handwerkers zu blicken. Man will eine genaue und erschöpfende
Auskunft und bekommt ein Ragout zahlreicher einander widersprechen-
der Möglichkeiten und schließlich das' Bekenntnis, daß der Autor
nichts Bestimmtes auszusagen wisse.

Verstimmt legt der Leser das Werk aus der Hand und greift
nach einem andern, nach zwei kleinen handlichen Bänden, die schon
im Äußern das Gegenbild des ersten sind. Aber hier schreckt schon das
Titelblatt ab: es trägt die Bezeichnung „Historischer Roman" und ist
von einem Dichter verfaßt, der aus Liebhaberei auch Geschichte treibt,
oder von einem Historiker, der im Nebenamt auch als Dichter auf-
tritt. Diesmal will indes der Wissensdurstige nicht eine Dichtung,
sondern die historische „Wahrheit" — auch lehnt er als moderner
Mensch historische Romane grundsätzlich ab, da er annimmt, es handle
sich in solchen Zwittergebilden didaktischer Poesie nur um zudring-
liche Darbietung antiquarischen Kleinkrams. Das zweite Werk wird
also ungelesen beiseitegelegt.

Das dritte endlich scheint dem Suchenden Erfüllung seiner Wünsche
zu bringen. Es stammt von dem „genialen" Historiker C, dem glän-
zenden Stilisten. Zwar werfen ihm Fachgenossen Neigung zu geist-
reichem Feuilletonismus vor und daß seine phantasiereiche Kombi-
nationsgabe nicht streng genug von wissenschaftlicher Exaktheit im
Zaume gehalten werde — doch bürgt schon sein Weltruf für eine
bedeutende Leistung. In der Tat, der Leser wird von Seite zu
Seite mehr gefesselt. Wie ein Naturforscher nach dem bekannten
Ausspruche Buffons aus einem übriggebliebenen Knochen den ganzen
Leib eines ausgestorbenen Tieres soll wieder aufbauen können —
so läßt unser Autor aus wenigen überlieferten Daten die ganze
Persönlichkeit des alten assyrischen Helden und seiner Schicksale wieder
erstehen. Mit der Bewunderung der historischen Persönlichkeit ver-
bindet sich die Bewunderung des Historikers: nur ein sein Hand-
werkszeug souverän beherrschender Forscher, der zugleich ein tief-
gründiger Seelenkenner und ein Dichter ist, kann ein solches Werk
schaffen! Alle Hypothesen wirken verblüffend selbstverständlich und
überzeugend, alle Einzelheiten schließen sich wunderbar zusammen
und stehen mit den verbürgten und gesicherten Äberlieferungen in
völligem Einklang. Ein klares, abgerundetes Bild von vollendeter
Lebendigkeit und Glaubhaftigkeit steht vor dem Auge des Lesers. Er
fühlt sich ergriffen und befriedigt, warum sollte er also zweifeln

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