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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 15 (1. Maiheft 1909)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0204
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„Nu.n, das rst keiir Vergrrügerr!" sagte der Senator hart nnd gereizt
nnd stand auf. „Worübcr weinst du? Weinen könnte nran darüber,
daß dn selbst an einenr Tage, wre heute, nicht genug Energie aufbringen
kannst, um nrrr erne Freude zu nrachen. Bist du denn ein tleines
Mädchen? Was soll aus dir werden, wenn du so fortfährst? Gedenkst
du dich später inrmer rn Tränen zu baden, wenn du zu den Leuten
sprechen sollst? . . .«

Nie, dachte Hanno verzweifelt, nie werde ich zu den Leuten sprechen!

Aus „Peter Camenzrnd" von Hermann Hesse

^v>och stärker und leberrdiger war eine andere Sehnsucht in mir. Ich
^^wollte gern einen Freund haben.

Da war ein braunhaariger, ernsthafter Knabe, zwei Iahre älter als
ich, namens Kaspar Hauri. Er hatte eine sichere und stille Art zu gehen
und dazusein, trug den Kopf männlich fest und ernst und sprach nicht viel
mit seinen Kameraden. An ihm blickte ich monatelang mit großer Ver--
ehrung empor, hielt mich auf dcr Straße hinter ihm her und hoffte
sehnlich von ihm bcmerkt zu werden. Ich war auf jeden Spießbürger
eifersüchtig, den er grüßte, und auf jedes Haus, in das ich ihn eintreten
oder aus dem ich ihn kommen sah. Aber ich war zwei Klassen hinter
ihm zurück und er fühlte sich vermutlich der seinigen schon überlegen.
Es ist nie ein Wort zwischen uns ausgewechselt worden. Statt seiner
schloß sich ohne mein Zutun ein kleiner, kränklicher Knabe an mich an.
Er war jünger als ich, schüchtern und unbegabt, hatte aber schöne, leidende
Augen und Gesichtszüge. Weil er schwächlich und ein wenig verwachsen
war, stand er in seiner Klasse viel Unbilden aus und suchte an mir, der
ich stark und angesehen war, einen Beschützer. Bald war er so krank, daß
er die Schule nicht mehr besuchen konnte. Er fehlte mir nicht und ich
vergaß ihn rasch.

Nun war in unserer Klasse ein ausgelassener Blondkopf, ein Tausend-
künstler, Musiker, Mime und Hanswurst. Ich gewann seine Freundschaft
nicht ohne Mühe, und der flotte, kleine Altersgenosse benahm sich stcts
ein wenig gönncrhaft gegen mich. Immerhin hatte ich nun einen Freund.
Ich suchte ihn in seinem Stüblcin auf, las ein paar Bücher mit ihm,
machte ihm die griechischcn Aufgaben und licß mir dafür im Rechnen
helfen. Auch gingcn wir manchmal mitcinander spazieren und müssen dann
wie Bär und Wicsel ausgesehen haben. Er war immer der Sprecher, der
Lustige, Witzige, nie Verlegene, und ich hörte zu, lachte und war froh,
einen so burschikosen Freund zu haben.

Eines Nachmittags aber kam ich unversehens dazu, wie der kleine
Scharlatan im Schulhausgang cinigen von seinen Kameraden eine von
seinen beliebten komischen Aufführungen zum besten gab. Soeben hatte
er einen Lehrer nachgemacht, nun rief er: „Ratet, wer das ist!" And
er begann laut ein paar Homerverse zu lesen. Dabei kopierte er mich
sehr getreu, meine verlegene Haltung, mein ängstlichcs Lesen, meine ober-
ländisch ranhe Aussprache, und auch meine ständige Gebärde der Auf-
werksamkeit, das Blinzeln und das Schließen des linken Auges. Ls sah
ssch sehr komisch an und war so witzig und lieblos als möglich gemacht.

Als er das Buch schloß und den verdienten Beifall einstrich, trat ich
von Hinten an ihn Heran und nahm Nache. Worte fand ich nicht, aber

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