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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 18 (2. Juniheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0454
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würdc das rcligiöse Empfinden auf
das schwerste verletzen, würde cin
solches Denkmal unter Außcracht-
lassung dcr Gesinnung, dic es ge-
stiftct und durch Iahrhunderte
pietätvoll verwahrt hat, veräußert
werdcn. Eincn solchen Besitz hält
man hoch, abcr verkauft ihn nicht.
Der rcin matericllcn Auffassung,
wclche in solchcm Denkmal nur
ein künstlerisches Denkmal von gc-
wissem Wert, und untcr Umstän-
dcn ein Vcrkaufsobjckt sieht, müssen
wir auf das bestimmteste cntgegcn-
trcten. Für sachgemäße, sorg-
fältige Aufstcllung, Verwahrung,
Behandlung und ÄberwachungSorge
zu tragcn, ist Sache des Kirchen-
vorstandes, dem bei der Bcdeutung
dcr Sache volles Vcrtranen ent-
gcgcnzubringen ist. Alle andcren
Gesichtspunkte kommen für unsre
Entschließung nicht in Betracht.

So ist's recht, und ist es auch
im Sinnc desscn gchandclt, dcr nicht
nur dcn kunstgeschichtlichen odcr bild-
nerischen, sondern den im weitcren
und höhcren Bctracht künstlcrischen
Wcrt jenes Altarschreincs erfaßt.
Denn ein Kunstwerk an rechter
Stelle ist zugleich cin Teil eines
Gcsamtkunstwerks, cin Organ eines
Organismus. Bei der religiösen
Kunst: eines Organismus, dessen
Seele die fromme Gesinnung ist.
Nimmt man solch ein Werk von
der Stcllc, an die es gchört, so zcr-
stört man also ein weiteres Kunst-
werk, wie einen Leib, dcm man ein
Glied nimmt.

Vogelgesang

«sVberall grünt's und blüht's,
^»'überall regt sich Lebcn. Und
wir genießcn und genicßen, ge-
nießen mit allen Sinnen. Auch
mit allen Sinnen gleich gnt? Wie
steht es denn mit dem Natur-
genuß durchs Gchör?

Das Ohr spielt keine so bestän-

dige Vevmittlerrollc zwischen dcr
Natur und uns. And doch, wie
könnte es da draußcn in herrlichcn
Genüsscn schwelgen, wcnn wir nur
wolltcn! Schallt uns nicht der
Vogelgcsang vicltausendstimmig und
hundertfältig aus allen Hecken und
Büschen, Wiescn und Feldcrn, vom
Wasscr und aus dcn blauen Lüften
um uns und über uns entgegen?
And nach wie viclen Seiten ver-
mag der Vogelgcsang unsrc Auf-
merksamkeit und unsre Teilnahme
zu wecken und dauernd zu fesseln!
Horch nur zum Beispiel einmal
etwas genauer auf eine Singdrossel,
die frühmorgcns oder gegen Abend
in der Nähe deines Heims von
hohem Baume herab unermüdlich —
oft stundenlang — ihrc Stimme cr-
klingen läßt. Welch eine Tonfülle,
welch ein Wohllaut, welche Sanges-
freudigkcit! Zu wie vcrschiedcncn,
mcist mehrmals wiedcrholten Mo-
tiven werden da die Löne verkcttet!
Wie oft eninnern die Intervalle
so sehr an unser Tonsystem, daß
man meinen möchte, die Sing-
drossel hätte bei einem unsrer Ge-
sanglehrer Anterricht genossen. So-
gar scheinbar harmonischc Vcrbin-
dungen dcr Löne kann man her-
ausfindcn. Dabei sind die Motive
selbst so entzückend klar und ein-
fach, daß sie der Phantasie eincs
Mozart ihrcn Ursprung verdanken
könnten.

Selbst ein so einfachcs Liedchen
wie das unsrcr Wachtcl, das schon
die Römer mit äie cur bic über-
setzten und dcm unsrc Landleute
die Worte „Fürchtc Gott!" und
andre unterlcgen, bictct genug Ver-
anlassung, mit recht aufmerksamen
Ohrcn hinzuhörcn. Wie scharf und
ausgeprägt ist der Nhythmus des
immer gleichbleibcndcn Motivs



Naturschönheit

2. Iuniheft lM9

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