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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Wann geht's an die Herrentracht?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0365
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beschwöre die Iugend, habt ihr, unsre Ansicht weiterzutragen, daß
die geeignetste Umhüllung für Rumpf, Beine und Arme vier dünne
und eine dickere Röhre seien, auf die zur Krönung des Werks an
Feiertagen noch eine sechste auf den Kopf kommt? Aber alle diese
Dinge ist im einzelnen so viel gesprochen worden, und die Muster
aus bessern Zeiten sind so zahlreich und so bekannt, daß weitere
Worte Bartbinden zu Haby trügen. Richtig, tzaby: war nicht am
Ende auch er entbehrlich? Es gibt Menschen, die bezweifeln, daß
die auf seine Weise, oder auch mit Pomade, erschaffene Kühnheit
des Bartwuchses auf die Seelenbeschaffenheit beim Träger recht über-
zeugend schließen ließ. Freilich, was gibt es alles für Leute! Auch
welche, die sich angesichts der Sommerhaartracht des deutschen Mannes
noch fragen können: Warum igelt sich der Mensch? Ia sogar solche,
die den menschenalterlangen Kampf des Rasiermessers gegen die immer
wieder hunderttausend tzälse ausreckende Hydra des Bartwuchses zwar
bewundern, aber doch nicht ganz begreifen können und die mildere
Herrschaft der Schere genügend finden.

Rnd was wäre das dritte? Ich glaube: mehr Persönlichkeits-
recht. Der Frau geben wir heute eins, die Kleidung nach eignem
Geschmack zu individualisieren, immerhin iu ziemlich weitem Maße,
ist doch sogar das Reformkleid wenigsteus meistenorts „erlaubt". Der
Manu aber, der sich der Lächerlichkeit unsrer Männerkleidung nicht
fügt, den lächeln wir aus. Dieses ist unlogisch, scheint mir. Man
kann ein ganz respektabler, sogar ein ganz gescheiter Mensch sein
und doch Kniehosen auch außerhalb des Sports lieber tragen als
Brunnenröhren, auch einen breiten Schlapphut selbst auf dem Wege
ins Amt lieber als einen steifen in Suppenlöffelform, ja, ich halte
es für möglich, daß sogar ein ganz heller Kopf der Ansicht huldigen
kann, der liebe Gott gebe ihm Haare, damit er sie trage. Vorläufig
findeu wir alle Ikngewöhulichkeiten „komisch". Wer andres und
vielleicht Wichtigeres zu tun hat, taugt hier auch nicht zu den
Reformatoren: der ältere hat ein gutes Recht, unbeachtet und un°
belästigt durch die Menge zu gehn, und, wie unser Volk einmal ist,
kann schon die Begleitung eines jugendlichen Kleider-Reformators
ob all des Grinsens, Kicherns und Sichanstoßens rings mehr Kraft,
nämlich Aufmerksamkeit ablenken, als erquicklich ist. Also geht i h r
vor, junge Leute! Nur: tut's nicht stürmisch, tut's nicht extravagant!
Gewöhnt euch zunächst mehr und mehr auch außerhalb des Sports
an eure Radlerhosen, eure „Sweater" usw. In München z. B. ist
man darin schon vor dem Norden voraus. Stückweise, aber zäh
muß erobert werden. Ein Märtyrertum aber wegen allzu auffälliger
Tracht lohnt sich weder, noch nützt es wem,- wenn der Reformator
unter all den Blicken befangen wird und vielleicht gerade deshalb
mit seiner Tracht auftrumpft, so ist's gefehlt. Deshalb taugt hier
nicht allen, was manchen taugt.

Alle vernünftigen Neuerungen, was Farbe, Stoff, Schnitt an°
belangt, werden bei den sogenannten „seriösen" Gelegenheiten, bei
den Fest- und Gesellschaftskleidern schwerlich beginnen können:
sie müssen vorher da eingeführt sein, wo der Mensch sich „nachlässiger"
kleidet, also bei seiner Arbeit, in seiner Alltagshäuslichkeit, und bei

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