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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1909)
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Rundschau
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Unsre Bilder und Noten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0440
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nug, daß den gereiften Geist Zweifel
quälen, wohin er nur das forschende
Auge wendet, muß denn schon die
junge Saat durch diese Qual, welche
im kleinen Kopfe tausendfach wächst,
getötet werden? Ist es denn nicht
genug, daß die Männerbrust soviel
Schmerz über Lebensfragen zerreißt,
muß denn schon das kleine Herz
des Knaben die Angst martern, mit
der er am Sonntag Abend ins Bett
kriecht, wenn er seine Montagslek-
tion nicht begriffen hat? O warum
mußt ich in meinem achten Iahre
den mathematischen Lriangel be-

rechnen, statt dem klingenden nach-
zulaufen, wenn das Bataillon mit
der Musik kam? Warum mußt ich
mich mit algebraischen Formeln her-
umbalgen, statt mit andern Knaben?
Wo ist der Mensch, der nicht manche
Stunde zurückwünscht, die er anders
verleben möchte? Beim Iüngling
ist's manch drückende Lehrstunde in
der staubigen Schule, bei dem Mann
oft das Gegenteil, und beim Greise
oft das ganze Leben.

Eduard Helmer (Ernst Koch)
in seinem Buche »Prinz Rosa-Stra-
min" ((33H.

Ansre BiLder und Moten

^^»on Ambrogio de' Predis hat die Welt so gut wie gar
H nichts gewußt, bis Morelli-Lermolieff mit ihm bekannt machte,
"^-^dann gab es viel Polemik hin und her, jetzt aber ist endlich der
Hofmaler des Ludovico il Moro aus Lionardos Schule lange schon eine
anerkannte Berühmtheit. Wir unserseits halten es nicht für sicher,
daß das heute von uns als Steindruck wiedergegebene Bild der Olden-
burgischen Galerie ihm mit Recht zugeschrieben wird, für unsre Zwecke
aber kommt das nicht weiter in Betracht. Wir weisen auf das Werk
als einen seltsamen Schatz, der abseits in der deutschen Tiefebene aus»
bewahrt wird, wo ihn nicht gar viele aufsuchen werden, und von dem
deshalb die meisten kaum wissen. Ansre Zeit hat ja wieder gclernt,
dem Reiz dieser „Primitiven" nachzugehn, die eigentlich keine Primitiven
mehr sind, dieser Künstler, die alles auf das schlichteste zu vereinfachen
scheinen, während sie es doch bis zum Sprengen mit latentem Leben
anfüllen. „Bis zum Sprengen" — das Gefühl der gcfüllten Knospe
kommt uns bei dieser Kunst der Frührenaissance immer wieder.

Die Kunst der Hochrenaissance bringt dann die freie Entfaltung der
Vlüte; blicken wir von Ambrogio auf Bronzino, so ist's ja beinah,
als sähcn wir dem Fallen der Hüllen und dem Freiwerden von Haupt
und Gliedern zu. In Wahrheit liegt freilich das eigentliche „Auf-
brechen" zwischen den beiden Künstlern. Ambrogio ist um die Mitte
des (5. Iahrhunderts, Bronzino (502 geboren, und was bedeutete da-
mals ein halbes Iahrhundert Kunstl Wer sich zum Veispiel an Bron-
zinos „Christus in der Vorhölle" erinnert, ordnet unsern Maler mit
manchem Kunsthistoriker bereitwillig unter die verrufenen Michelangelo-
Manieristen ein. Aber vor mehr als einem seiner Bildnisse wird
er stutzig werden; hier ist's, als wenn ein ganz andrcr Bronzino
spräche, ein Mann ganz ohne Schwulst und Phrase, ein Künstler von
großem Respekt vor dem Wirklichen, von Seelenkenntnis, von zurück-
haltender und doch scharfer und fciner Charakterisierungskraft und dabci
(nicht so sicher in der Farbe, gewiß aber in Komposition und Zeichnung)
von außerordentlichem Geschmack. Das Gehaltene und Gemessene seiner

(. Dezemberheft (909

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