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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Weihnachten
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Rath, Willy: Anzengruber
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0456
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ausdrückt? Daß das soziale Gewissen vielleicht ge--
radezu die moderne Form einer Religion ist? And
irren wir, wenn wir im Aufwachsen des Bewußtseins vom Zu-
sammenhang aller Erscheinungen einen gewaltigen Stärker dieser
Gefühle sehn?

Immer und immer hören wir wieder: wir leben in ciner Aber-
gangszeit. Mir scheint, wir lebeu in einem Zeitalter der Refor-
mation. Das der Renaissance und der Kirchenerneuerung erscheint
uns gewaltiger, weil wir es geführt sehen von einer Reihe von
Persönlichkeiteu im Riesenmaß. Vielleicht, weil sie ihre Zeitgenosseu
tatsächlich so hoch überragten, vielleicht nur, weil wir nicht mehr
sehen, wie vieles sie selbst in die Höhe hob. Möglich, daß der Blick der
Zukunft solche Männer nicht erkennen wird, wenn er auf unsere
Gegenwart zurückschaut. Sicher, daß er auch der „Schwarmgeister" in
ihr genug bemerkt, der Abirrer und Verführer, der Berauschten und
Berauschenden und der Spekulanten mit geistigem Edelgut. Es ist
vielleicht unsre ernsteste Aufgabe, mit nie ermüdender Wachsamkeit
auf sie zu achten und uns sorglich davor zu hüten, dem Kopfe
Schweigen zu gebieten, weil er zu lange allein sprach. Aber gewiß
ist auch, daß jener Rückblickende aus kommender Zeit in unsern
Iahren nicht nur jene ungeheuren Umwälzungen der Technik sehen
wird, in deren Anbetung der ethische Materialismus zum Allein-
herrscher ward. Noch vor wenigen Iahrzehnten sah es so aus, jetzt
nicht mehr. Uralte Kräfte der Menschennatur, über die so lange

obenhin vernünftelt worden ist, wachsen aus den Tiefen, und ein

Wollen regt sich in vielen Tausenden, das ihrer achtet. Es will

die Zivilisation, aber es will sie nur als Mittel zur Kultur. Bis das

große Blühen beginnt, wird's noch lange dauern. Während die
Tage kurz, die Nächte lang sind, Stürme rauschen und Fröste töten.
Das Licht jedoch, das in der Weihnachtsnacht aufglimmt, das sehen
wir. A

Anzengruber

»^wei Tage des Gedenkens an Ludwig Anzeugruber briugt
^<uns der Ausgang dieses Iahres. Am 29. November syOZ hätte
^^der Volksdichter seinen siebzigsten Geburtstag begangen —
wenn seine Lebenskraft sich nicht in Entbehrung und Äbermühung
früher verzehrt hätte — und am sO. Dezember sZOA sind es schon
zwanzig Iahre, daß der große Grausame ihm das Dichten und das
Leben miteinander abschnitt. Der doppelte Gedenk-Zeitpunkt könnte
wirklich etwas wie einen Abschnitt vorstellen.

Bei der Feier eines lebendigen Siebzigers ward es unlängst hier
bereits angemerkt: der zufällige Zwischenfall des äußern Sterbens
soll den Dichter, der „bloß" in seinen Werken lebendig blieb, mit
nichten um den üblichen Ehrentag bringen. Bedeutet diese Alters-
feier doch das einzige Recht des anerkannten deutschen Dichters an
die Nation! Daß zur selben Zeit das zweite Iahrzehnt seit dem
Tode des Menscheu Anzengruber abgelaufen ist, das sollte uns zum
willkommenen Anlaß dienen, den Gefeierten endgültig von der nicht
gan; zweifellosen Ehre eines Zcitgenossen freizusprechen und ihn un-

2. Dezemberheft G09 379
 
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