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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 7 (1. Januarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0079
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Kultur als vor vierzig und mehr
Iahreu. Auderseits ist es mit dem
Lrust und Ler Vornehmheit uusrer
Kunstauffassung in Wirklichkeit gar
nicht so feinlich bestellt, wie ihre
Verfechter wahr haben möchten. Das
große Publikum wird noch immer
von denselben Instinkten geleitet,
die Lust am Außerordentlichen liegt
uns im Blute, die Freude an der
einzelnen Persönlichkeit, auch der
reproduzierenden, glimmt nnter der
Asche des Bildungsdünkels fort
und schlägt, wo sie Nahrung findet,
gern in hellen Flammen auf.

Und ich gehe weiter und sage:
ein Glück, daß es so ist! Eine Zeit,
die diese Lust nicht kennt, müßte
küustlerisch verkümmern, sie ist ein
wesentliches Moment naiver Teil-
nahme und gerade von den stärk-
sten Wirkungen nicht zu trennen.
Man vergleiche doch: einen Abend,
an dem die Hörer sich das Ver-
ständnis für fünf Sonaten abrin-
gen mit einem Programm voll
Iahreszahlcn und historischen Da-
ten in der Hand — und einen
Abend, wo eine atemlos mit
blitzenden Augen lauschendeMenge
in Iubel ausbricht und sich von
dem Manne oben auf der Bühne
die (gewiß an sich unkünstlerische)
Wiederholung einer Arie erzwingt.
Wo ist trotz allem das größere Maß
von echtem, erregtem Mitleben, ins-
besondere: von dem, was öffent-
liches (nicht häusliches!) Musizie-
ren in und an Eindrücken auslösen
kann? Es gibt eben etwas, das auch
der „Virtuose" vermag. Er läßt uns
einen unmittelbaren tzauch des
Lebendigen verspüren, ohne das
jede Kunst wertlos ist, er gibt
uns Sensationen, die echte Be-
geisterung nicht missen will und
die zu ihrer eigensten Natur auch
gehören. Die einseitige Kul-
tur solchen Virtuosentums, die in
ihm das Höchste des Kunstgenusses

überhaupt findet, die ist vom
Abel, die verflacht den Geschmack.
Wir haben das erlebt und erleben
es noch auf instrumentalem Ge°
biete. Deshalb war und ist der
Feldzug dagegen auch berechtigt.
Aber er hat auch Folgen gezcitigt,
die oft genug auf Abwege führten,
unter denen wir heute nicht weni-
ger leiden, weil sie uns die wahre
Freude an der Musik verkümmern.
Wir vergeben deshalb weder uns
noch der Kunst ctwas, wenn wir es
dem Sängersmann aus Süditalien
danken,daß er ab und zu wieder jenen
freien, lebendigen Zug in unser Mu-
siktreiben bringt, und in die Massen
den Funken der Begeisterung wirft.

Caruso ist zweifellos ein Vir-
tuose, das heißt ein großer Kön-
ner im technischen Sinne. Er
beweist das durch zweierlei: durch
die Kunst, den Ton schlackenfrei im
Munde erklingen und tragfähig
zu machen, und durch die Skonomie
in der Atemführung, in der er
nur noch in Bonci einen Rivalen
unter den Zeitgenossen hat. Es
sind das die Künste der altitalieni-
schen Schule. Dazu kommt die
Leichtigkeit im Ansah, die Ausge-
glichenheit seiner Skalen und die
geschmeidige Eleganz seiner Verzie-
rungen. Seine Stimme ist von
einer für einen italienischen Tenor
merkwürdig dunklen, fast baritona-
len Färbung und eint der Schön-
heit des Tones männliche Kraft
und Würde. (Ich habe hier keine
fachtechnischen Untersuchungen au°
zustellen und halte deshalb diese
Charakterisierung in populären
Ausdrücken.) Zu all dem aber
kommt noch ctwas, was über den
Virtnosen hinausgeht, worin Ca°
ruso Künstler in unserm Sinne
und ein Kind seiner Zeit ist.

Caruso ist mehr als Sänger,
er ist Menschendarsteller, er
ist dazu geworden. Schon da wir

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