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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1911)
DOI Artikel:
Nidden, Ezard: Die Talente und die Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0192
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1 Iahrg. 24 Erstes Maiheft 1911 Heft 15

Die Talente und die Dichtung

^W^ie allgemeine Aberzeugung, daß in unsrer Zeit eine sehr große
^-D^Zahl von unzweifelhaft talentbegabten Männern und Frauen
dichterisch arbeitet, geht mit der andern Hand in Hand, daß den-
noch die zeitgenössische Dichtung in ihrem mittleren Wert durchaus nicht
hoch stehe. Andre Zeiten, so meint man, haben vielleicht nicht soviel
Gutes im Durchschnitt hervorgebracht, aber sie wurden belebt und be-
glückt von mehr führenden Talenten, von mehr Originalität, mehr
Genie. Natürlich mangelt es nun nicht an Versuchen, die gegen damals
veränderte Ligenart unsrer Tage historisch, soziologisch, philosophisch
zu erklären. Man bringt sie mit der Sozialisierung und der geistigen
Gleichmacherei, mit der kritizistischen Philosophie, der Bevölkerung-
zunahme und der einseitig intellektuellen Bildung zusammen; so findet
man zwar wohl nie völlig ausreichende Erklärungen, aber doch manche
von den vielen wirklichen Nrsachen der bedauerlichen Entwicklung. In°
dessen aber lockt der magische Zauber des angeblich freien Schriftsteller-
berufs jedes Iahr wieder neue Hunderte aus der Schar lebenhungriger
Iugend an, jedes Iahr erscheinen hundert Bücher, die beachtet und
ernst genommen sein wollen, weil sie eine Lebenshoffnung in sich
schließen — und wenn wir einmal die zahlreichen Erscheinungformen
unsrer Zeit restlos theoretisch-historisch begriffen haben werden, werden
wir noch viel tiefer in der Tinte sitzen, wortwörtlich zu nehmen, als
im gegenwärtigen Augenblick. Nicht als ob der Theorie das Lebens-
recht abgesprochen werden sollte, allein wo ein solcher rein geistig
erkennbarer Abelstand ist, wird sich allzeit auch ein lebendiger, wirk-
licher schmerzlich fühlbar machen. In unserm Falle sehe ich ihn
in den Daseinsbedingungen, unter denen unsre talentbegabten Poeten
hente zumeist arbeiten. Was tun wir denn eigentlich für unsre Talente,
wie behandeln wir sie, wie behandeln sie sich selbst, wie entwickeln sie sich?

Nnsre Betrachtung gilt also für diesmal nicht dem schreibenden
Proletariat, sondern wir nehmen die günstigste Voraussetzung an:
Talent, wirkliches Talent, und verfolgen ein wenig den üblichen Lebens-
lauf des also Begabten. Es sei sogar ein Erfolg da. Eine Novelle, ein
Roman, ein Drama, ein Gedichtband habe Anerkennung bei Kritik und
Publikum gefunden, nicht durch Sensation und Reklame allein, sondern
durch das stille Wirken einer guten Sache. Das bedeutet für den
hoffnungvollen Verfasser soviel wie ein bestandenes Staatsexamen für
den zukünftigen Lehrer oder Arzt, es gibt das Gefühl: ich kann nun
etwas, ich darf auf mich vertrauen, ich habe ein Recht auf mein Talent.
War das erste Buch in stillem Reifen gewachsen, so tritt nun die Ver-
suchung heran, mit dem schier beiläufig erworbenen Können ohne
Nötigung von innen weiter zu wirtschaften. Die Versuchung — in
Gestalt von zuredenden Freunden, von reichen Verlegern, von Zeitun-
gen, vom Zug des eignen lieben Ichs. Wer mag da widerstehen! Es
folgen jene „zweiten" Bücher, die wir Kritiker alle kennen, die nichts
sind als die auf einen neuen Stoff angewendete Fertigkeit, Hand- und

i- Maiheft M
 
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