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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

DOI Heft:
Heft 17 (1. Juniheft 1911)
DOI Artikel:
Touaillon, Christine: Der Schrei nach dem Genie
DOI Artikel:
Nidden, Ezard: Arno Holz und seine "Sonnenfinsternis"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0358
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wären, wäre es verfehlt, sie züchten zu wollen. Wir brauchen vor
allem tüchtige Normalmenschen. Wer der Frau das Bewußtsein
einpflanzt, daß sie keine Verpflichtung hat, über die Allgemeinheit
emporzuragen, daß es keine Schande für sie ist, dem tüchtigen Durch-
schnitt anzugehören, erwirbt sich ein großes Verdienst um die Mensch-
heit. Die Gesellschaft braucht viele tüchtige Glieder, und überall fehlt
es an ihnen. Auch auf den Gebieten alter und neuer Frauenarbeit.
Im Hause, in jedem Beruf, in der sozialen Hilfstätigkeit, bei der politi-
schen Organisierung der Frau, überall, wo Menschengeist und Men-
schenhand sich regen.

Aber davon ist nirgends die Rede. Der normale Mensch wird unter-
schätzt, mit einer gewissen spöttischen Äberlegenheit behandelt, hinter
der die Verwechslung der Tüchtigkeit mit der Philistrosität steckt. Nnd
doch hat die Welt viel größeres Bedürfnis nach dem tüchtigen Durch-
schnitt als nach dem Genie. Mit ein paar Genies fände jedes Iahr-
hundert sein Auslangen, wenn ein paar Millionen tüchtiger Normal-
menschen da wären, die ihr Werk aufnehmen, verarbeiten und fördern
würden. Sie fehlen. Die Genies fehlen nicht. Kein Iahrhundert war
noch so unfruchtbar, daß es nicht auch das eine oder das andere Genie
hervorgebracht hätte. Aber die Zahl der tüchtigen Normalmenschen
war noch immer für den Fortschritt der Menschheit zu klein. Weil
es an ihnen mangelt, muß das Genie doppelte, dreifache, zehnfache
Arbeit tun, muß sich gehemmt, vorzeitig geschwächt und verbraucht
sehen. Welch ein Iahrhundert, in dem jedem Genie ein Heer von
tüchtigen Durchschnittsmenschen zur Verwirklichung der genialen Ge-
danken diente! Welch eine Summe wertvoller Arbeit für die Mensch-
heit, wenn die Frau zur Tüchtigkeit statt zur Genialität, zur Linfach-
heit statt zum Glanze erzogen würde! Lhristine Touaillon

Arno Holz und seine „Sonnenfinsternis"

enn jcmand cine halbwegs brauchbare Theorie des künstlerischeu
^W H MSchaffens aufstellt, so braucht er deswegen noch nicht im kleinsten

Leil Künstler zu sein — dieser Satz leuchtet so unmittelbar und
erfreulich ein, daß daraus von recht vielen gleich der viel zweifelhaftere
Satz mitverstanden wird: wer also eine solche Theorie formt, wird eben
darum kcin Künstler sein. Man wird in solchen Meinungcn ja auch von
dcn gewöhnlichen Erfahrungen bestärkt; Künstler haben meist keine Lust
zu abstrakten Bctrachtungen, Denker meist kein Talent zu künstlerischem
Schaffen; Künstler reden verächtlich von der professoralen Asthetik,
Ästhetikcr urteilen absprechend über die Denkarbeit der Künstler. Kurz,
wcnn cinmal cin Schaffender das Bcdürfnis nach theoretischer Grund-
legung für seine Arbcit verlangt, hat er von vornherein alle Aussicht,
nicht recht ernst genommen zu werden, solange er nicht dic Autorität
eines anerkanntcn Künstlcrs in die Wagschale werfen kann. So ist
es — trotz gewisser Ausnahmen — Arno Holz mit seinem „kon-
sequentcu Naturalismus" gegangen. llnd wenn er selbst als Poet heute
allgemcin zu den Großen gerechnet würde, auf seine Theorie würden
doch nur wenige gern zurückkommen. Ich glaube: mit Recht, und sogar
ohne deshalb seinen Iorn fürchten zu müssen; denn auch er hat, wie

l- Iunihcft lM

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