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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

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Heft 18
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Riedner, Wolfgang: Heimatgefühl und Reisetrieb: zum "Reiseheft" des Kunstwarts
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0452
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Iahrg. 24 Zweites Iuniheft 1911 Hest 18


Heirrrgefühl urrd NeiseLrieb

Zum „Neiseheft" des Kunstwarts

>^ollte es ein Zufall sein, daß die heimversessenen Dentschen,
l(^die sich das einsame Wort Heimweh geschaffen haben, zugleich
^^^eines der wanderlustigsten Völker auf (Lrden sind? An solche
Zufälle glauben, hieße das Leben sinnloser machen, als es ohnehin
erscheinen kann. Zwischen beiden Erscheinungen läßt sich vielmehr
ein starkes inneres Band erkennen. Beide beruhen auf dem natür-
lichen Streben einer starken, wirklichkeitfrohen Gemütskraft nach Ganz--
heit, nach gründlichem Erfassen dieser Welt sowohl zur Tiefe wie
zur Breite hin. Wir Deutschen vermögen so wenig wie andere Ger-
manen das Heim als gleichgültigen Ort für unvermeidliche praktische
Alltagszwecke anzusehen,- wir machen uns die Landes- oder Reichs-
grenzen nicht zur chinesischen Mauer, die geistigen Grenzen so wenig
wie die politisch-geographischen. Es ist ein einheitlicher Sinn
in unserm Heimgefühl und unserm Wandertriebe; daß die Einheit.
den wenigsten bewußt sein mag, tut nichts zur Sache.

Die Wechselwirkung zwischen beiden Neigungen zeigt sich in
vielerlei Gestalt, drinnen wie draußen. Immer aufs neue erweist
sich dabei, daß Heimgefühl und Reisetrieb bestimmt sind, einander
zu ergänzen, daß also mindestens für alle, die nicht mehr mit der
Ackerscholle verwachsen sind, nur durch eine (vernünftig abzustufende)
Abwechslung zwischen Daheimsein und Reisen ein harmonisches
Lebensgefühl zu erreichen ist. Die bildende Kraft des Reisens, die
heilende Kraft des Luftveränderns und des Wanderns sollen nicht
verkannt werden. Die Grundwirkung im Nutzbringenden aller Reiserei
scheint uns aber eben in der bloßen Macht der Abwechslung zu
liegen.

Schon von diesem Gesichtspunkt aus muß die Art oder vielmehr
Unart getadelt werden, mit der viele liebe Landsleute Heimisches auf
Reisen festhalten. Unser Deutschtum sollen wir wahrlich nirgends
in der Fremde verleugnen. Wer auf einem deutschen Schiff, in
einer mehr oder minder deutschen Pension des Auslandes oder einem
derartigen Gasthof oder gar etwa in einem „6ravä Wisl" des In-
lands ausländische Manieren der Leitung trifft, der soll sich das bei-
leibe nicht gefallen lassen! Ganz was anderes aber ist's mit der Ge-
pflogenheit, überall auf Reisen sich auf seine heimatliche Gewöhnung
zu versteifen und bloß die vom Reisehandbuch vorgeschriebene
Museumsbewunderung mitzumachen, das fremde Leben und Treiben
dagegen zu mißbilligen, weil es anders ist.

Wer im Ausland „sein« Bier und „seine" Knödl, „sein« Keilkissen
und „seine" Dampfheizung, „seine" Bettelpolizei und „seinen" Asphalt-
weg vermißt, der hat die Anfangsgründe der Reisekunst noch nicht
erfaßt. Der nimmt das Kleinliche der Heimat mit und kann un-
möglich auch nur die offenkundigen Reize des fremden Stadtlebens

2. Iuniheft M 36l
 
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