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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,2.1912

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Heft 12 (2. Märzheft 1912)
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Avenarius, Ferdinand: Talente: auch etwas zur Berufswahl
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Schumann, Wolfgang: Tolstoi und sein Nachlaß
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https://doi.org/10.11588/diglit.9026#0480
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durch dre Allgemernheit. Bloß eures Tulentes wegen habt
ihr keinen.

Diese Zeilen klingen fast wie ein Notschrei. And da ich wiederholen
muß: Alles in dieser Sache ist unsicher, das Positive wie das
Negative, so klingen sie wie einer mit sehr wenig Hoffnung. Feder
einzelne wird doch immer denken, er allein, aber er unzweifelhast sei
die Ausnahme mit dem großen Los. Reden müssen wir trotzdem doch
wohl, denn wer schweigend zuzustimmen scheint, bestärkt die Ver-
wirrung. Wir haben uns ja auch nur der Linsachheit wegen im
Wesentlichen auf die sogenannten „dichterischen" Talente beschränkt,
weil eine Erörterung der musikalischen, schauspielerischen, bildnerischen
ziemlich platzraubende Abwandlungen gefordert hätte, während das
letzte, wesentliche doch gleich bleibt. Es ist ein Rest aus falsch-
idealistischer Zeit, den wir mit dieser Äberschätzung des Talentes
herumtragen. Der Staat nährt ihn noch fortwährend, indem er auf
den andern Gebieten den „Lalenten" mit seinen Konservatorien und
Akademien die Scheinaussicht aus eine „Zukunst" öffnet, und die
„Gesellschast" nährt ihn, indem sie in Gegenwart sogenannter
„Talente" so tut, als habe sie vor Talenteil einen ausbündigen Re-'
spekt. Später läßt der Staat die anerkennend „Ausgebildeten" hun--
gern, und die Gesellschast lächelt noch obendrein über sie. Wann'
wird man von dem Wahn genesen, daß ein auffälliges „Talent" als
solches schon den Anspruch gebe, nicht nur ausgebildet, sondern Mittel-
punkt der Lebensärbeit zu werden? Erst dann würde die Vergeudung
von Kräften auf diesem Litelkeitsmarkte aufhören. A

Tolstoi und sein Nachlaß

ls Leo Tolstoi im Spätherbst GsO das Haus verließ, das acht-
8 Zig Iahre seine Heimat gewesen war, und mit ihm die Lebens-
^^formen, welche ein Menschenalter sein Gewissen gepeinigt hatten,
da war es in Europa von dem „großen Dichter des Russenlandes"
ziemlich still geworden. Lr selbst hatte sich erkannt in einem seltsamen
Bilde: „Es gibt Menschen mit großen starken Flügeln, welche aus
Laune unter die Menge herabsteigen und sich die Flügel zerbrechen.
So bin ich. Dann quält sich so einer mit dem gebrochenen Flügel,
schwingt sich heftig auf und — fällt herab." „Die Flügel", so sährt
er fort, „werden heilen — ich werde hoch fliegen. Gott helse mir."

So erschien ihm dasselbe, was vielen die größten Erlebnisse der
Menschengestaltung seit Iahrzehnten bedeutete, erschienen ihm seine
Werke als die Zeugnisse eines launenhaften Herabsteigens. Selbst
der Arzt seiner Seele, ging er nun daran, sie von diesen Launen
zu reinigen, und in stets erneutem Aufflug suchte er den Kteis des
„Lichtes das im Dunkel leuchtet". Aber es zeigte sich bald, daß die
größte Gestalterleidenschaft seines Iahrhunderts, die sich in ihm ver-
körperte, durch die neue Glaubensleidenschaft nicht zu verdrängen
war; nicht in vollem Amfang war jene Laune und Spiel gewesen:
sie verband sich nur mit seinen ethischen und religiösen Ideen zu
einem neuen Schaffen.

Diese Wendung bedeutete weder in Tolstois geistiger Arbeit noch

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