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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 15 (1. Maiheft 1912)
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Kuntze, Friedrich: Von der Erziehung zu Redensarten
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0180
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Iahrg.25 Erstes Maiheft 1912 Heft15

Von der Erziehung zu Nedensarten

^»^er deutsche Aufsatz ist augenblicklich der Ioseph unter unsern
/ Schulwissenschaften, als zeitweilig jüngster und seinen älteren
^^Brüdern gründlich verhaßter Sproß unsrer Pädagogik. Dieser
Haß ist nicht unverdient, denn auch der deutsche Aufsatz beansprucht
viel und leistet wenig. Davon ist der Entstehungsgrund dieser: Alle
andern schulmäßigen Lehrzweige sind als Disziplinen auf den Uni°
versitäten vertreten; der Gegenstand ist ergründet oder es wird
wenigstens daran gearbeitet, das in der Schule Gebotene einiger--
maßen der ernsthaften Wissenschast anzugleichen, die auf der Aniversität
über den jeweils fraglichen Gegenstand vorgetragen wird. Wo aber
'findet man den deutschen Aufsatz auch nur als Disziplin an den
Itniversitäten? „Doch in der Germanistik!" Dies kairn nur einwerfen,
wer nicht weiß, daß Germanistik als Wissenschaft reine Grammatik
ist, während die Pachtdomänen, die sie von der Dichtkunst inne hat,
teils von der Statistik und Quellenkritik, teils vom persönlichsten
Kunstverständnis des einzelnen Dozenten verweset werden, daher denn
die Germanistik mit dem deutschen Aufsatz genau so wenig zu schaffen
hat wie die analytische Mechanik. Der junge Oberlehrer soll also
eine Sache lehren, die er selbst nicht gelernt hat. Diese welthistorische
Verlegenheit ist noch immer die Mutter der ebenso wekthistorischen
Kunstgattung des Feuilletons geworden. Da nämlich der Lehrer
des deutschen Aufsatzes das, was er in seiner germanistischen Aus-
bildung gelernt hat, in den ihm geläufigen Methoden (Quellen-
prüfung, statistische Vergleichung usw.) nicht in der Schule vortragen
darf, und da er doch anderseits etwas Einschlägiges lehren muß,
so verfällt er auf „das Allgemeine". „Das Allgemeine" ist aber
immer der dankbare (weil dehnbare) Gegenstand des Feuilletons.
And dehnbar sind die Schulthemata wie Schafleder! Zunächst einmal
die Charakterthemata (von Odysseus bis zum Prinzen von
Homburg), dann die unmöglichen Vergleichungen von Schick-
salen und Charakteren („Odysseus und der Prinz von Homburg"),
dann die leeren Analogien („das Leben eine Reise") und dann,
der größte Schrecken (aus dem borror vacui) die „P hi l o s o p hi s ch e n"
Aufsätze („Beharren und Fortschreiten" usw.). Ia, sieht man
denn nicht, daß zum Beispiel über Charakterthemata nur ein ganz
seltener reifer Mann sollte schreiben dürfen, da ja ungemessene Lebens-
erfahrung, architektonischer Sinn und seelischer Instinkt dazu ge°
hören, auch nur den einfachsten Charakter aus der Schullektüre
nachzuerleben? Der Oberprimaner aber könnte genau so gut seine
Herzensmeinung über die Abelschen Integrale zu Papier bringen,
wie über den „Koriolan". Wozu also erzieht man ihn? Redens-
arten zu machen.

So ist also erstens der typische Gegenstand der Schul-
aufsätze vom Lehrer selbst unverarbeitet und dem Schüler so un°

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