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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 7 (Aprilheft)
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Heuss, Theodor: Die großdeutsche Frage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0029

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deutschen Staatsproblems, sondern dies durchaus sah ln den Bedingtheiten der europä-
ischen Dynamik.

Was sol! diese Erinnerung an bekannte Dinge? Sie mag nicht ganz wertlos sein sür
eine deutsche Gegenwart, die in dem Gesängnis der Enttäuschungen sitzt und durch
seine Gitterstäbe die Geschichte der andern sieht, an der sie teilzuhaben nicht mehr
glaubt — da ist Selbstanklage das sruchtlose Tun. Sie hat aber Anteil an dem
Schicksal der andern, denn dies ist in daS eigene verwoben, und es mag sich darum
handeln, aus dem Gesängnis, dessen Riegel nicht verschlossen sind, Herauszutreten.

Heute, da nicht bloß die innerdeutschen BorauSsetzungen des formalen Staatsbaues
weggesallen sind, die Fürsten, die einen „ewigen Bunö" miteinander schlossen, son-
dern die europäische Lage von Grund aus geändert, sehen viele das Relative und
Geschichtlich-gebundene dcs Werkes. Sie haben sich darum angewöhnt, jene Politik
der sechziger Jahre als Jrrtum, als Verhängnis, ja als Schuld zu beschreiben, und
unzweifelhast sind die „großdeutschen" Gegner BiSmarcks heute aus dem Schatten
der Geschichtsschreibung hervorgetreten, in den sie zurückgedrängt waren. Aber solche
Betrachtung führt nicht weiter. Sie wird Bismarck so wenig gerecht als sie etwa
sachliches oder geistigeS Material sür die Ausgaben sördert, die unserer Zeit gestellt
sind. Die Renaissance, die Fr. W. Foerster dem großen Publizisten Konstantin Frantz
bereiten wollte, war doch nichts anderes als Literatur, als Philologie des Ressenti-
ments. Niemand vermag etwas mit ihr anzusangen. Die Welt sieht anders aus,
und wir sind anders geworden als unsere Großväter waren, nicht besser, nicht
schlechter, aber anders. Polemik gegen die Geschichte zu treiben hat immer den satalen
und kleinen Zug der Besserwisserei, und gewiß sührt es zu nicht sehr viel, die neue
Fragestellung mit einer — so zu sagen — DeSavouierung Bismarcks zu beginnen.
Das ist so töricht wie der Rus geistlos ist: „Zurück zu Bismarck!"

Gewiß war dessen Sicherungssystem m'cht mehr auf dem Gedanken monarchischer
Solidacität aufgebaut, der das Kind einer Erschöpfung, die „Heilige Allianz", gezeugt
hatte; ec sah die realen Jntcressen, rechnete mit den Gegensätzen, spürte, wenn auch
nicht nüt der schärfsten Bewertung der eingeborenen Kräfte, die neuen Tatsachen der
nati'onalen Demokratie, von denen der europäische Boden umgepslügt wurde; aber
die Dynastien, ihre Traditionen, ihre Würde blieben Steine in seinem königlichen
Epiel -— man denke an das Dreikaiserbündnis! Allc Kombinationcn, die Beispiele
seiner Zeit als Treppengcländer bei einem „Wiederausstieg" benützen möchten, sind
zweckloser Zeitvertreib. Der alte und narbenreiche Körper Europas ist gcblieben, und
wer nüt „GeopoliLik" ihn versorgen will, kann das Notwendige oder Unzulässige der
Staatenbildung, die cr trägt, mit dem gleichen Scharssinn darstellen wie ehedem —
es sieht freilich manches anders aus; vvr allem aber, es haben sich neue Gewalten als
die Faktore» der Geschichte legitimicrt. Diese neuen Gewalten sind in ihrem Ethos
und Pathoö zu begreisen, wenn sie politisch gewertet oder gemeistert werden wollen.
Es sind die nationalen Demokratien.

*

Dies sei der geschichtliche Sinn und die Aufgabe des 19. JahrhundertS gewesen,
den Gedauken deS NationalstaateS herauszuarbeiten und zu verwirklichen — war
Trcitschke der Prophet dieser Jdeologie, so würde Meinecke ihr Historiker, beides für
Deutschland. Aber man muß sagen, daß das Jahrhundert seine Aufgabe schlecht ge-
löst hat — es war enügermaßen erfolgreich am Balkan, ziemlich siegreich in Jtalien,
mit großem Teilgewüm in Deutschland gesegnet —, aber es ließ, wo eS nicht wie in
Westeuropa sast fertige Formen beerbte und nur neue Gesinnung in sie zu gießcn
hatte, die künstlichsten Verknotungen ungelöst. Die hat dann der Weltkrieg zerrissen

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