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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

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Heft 7 (Aprilheft 1927)
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Tribüne
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0060
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mnerste Kern deS Orients ist Religiosität. Religiosität ist nicht mehr der Kern der
europäischen Wesenheit, oder wenn sie der Kern ist, dann hat sich so viel Fremdes
nnd StarreS darübergelegt, daß dieser Kern nicht mehr die rmmittelbare Möglich-
keit des Keimens und Sprießens besitzt, sondern eher sür eine spätere Zukunst
ausgehoben erscheint. Als letzte geistig religiöse Bewegung des europäischen Fest-
landes kann die pietistische zu Ende des 18. Jahrhunderts angesprochen werden,
die noch als starker Unterton in unserer klassischen Literaturperiode fortschwingt.
Fast alle unsre großen Dichter und Denker wurzeln in diesem Pietismus vder haben
enlscheidende Anregungen von ihm ersahren. Von hier aus wird denn auch zum ersten
Mal der Bersuch gemacht, sich der orientalischen Seele zu bemächtigen. Nicht ein-
mal als von etwas durchaus Fremdem, Exotischem. Es scheint vielmehr, daß man
nach Bestätigurigen eigener innerer Erlebnisse und Erfahrungen suchte, daß man an
den Orient herantrat mit derselben Sehnsucht, die damals die ersten Romantiker
zu den alten deutschen Mystikern, zu Böhme und Meister Eckehart trieb. Wenn
Jean Paul seinem Freund und Entdecker Karl Philipp Moritz, dem in der Herrn-
huterbewegung stehenden Verfasser des „Anton Reiser", ein Denkmal setzen will,
gibt er ihm die Gestalt deS indischen Sehers Dahore, und in der Tat könnte, was
dieser indische Herrnhuter im „Hesperus" spricht, von einem wirklichen Jnder ge-
sprochen sein. Georg Forster übersetzte 1790, einer Anregung HerderS folgend,
das indische Drama Sakuntala. Herder selbst schrieb zu dieser Übersetzung seine
lichtvolle Vorrede, an die dann wieder Friedrich Schlegel 1808, im Banne Schleier-
machers stehend, anknüpfte, als er mit seiner Schrift „Uber die Sprache und Weis-
heit der Jnder" die deutsche Jndienforschung begründete. Damals näherten sich
znm ersten Mal Abendland und Morgenland auf einer gemeinsamen Ebene, fern
von den politischen und wirtschaftlichen Vorgängen, die ungefähr zur gleichen Zeit
die englische Herrschaft in Jndien im Gefolge hatten. Auf dieser gemeinsamen
geistigen Ebene sind die Verbindungen zwischen Orient und Okzident nie ganz ab-
gerissen worden. Wie die indische Dichtung und Philosophie — im Grunde fallen diese
Gcbiete, ja sogar noch die Musik, in Jndien zusammen — auf das Geistesleben
Europas zurückwirkten, so ösfnete sich Jndien ständig mehr dem geistigen Einfluß des
Abendlandes. AllerdingS in erster Linie, soweit es sich um die religiöse Unterströ-
mung des europäischen Geistes handelt. Christentum, Goethe und Tolstoi haben die
indischen Denker beschäftigt, weit mehr und tiefer beschäftigt, als wir es noch vor
kurzem glaubten. WaS in der Tiefe der europäischen Wesenheit vor sich ging, fand
die Brücke nach dem Orient. Vor der europäischen Zivilisation zog sich die
östliche Seele zurück.

Je mehr das Abendland rein zioilisatorisch wurde, desto feindlicher mußten sich
Orient und Okzident gegenüberstehen. Oder vielleicht nicht einmal feindlich, sondern
eher, daß beide Welten auf ganz verschiedenen PlateauS gelagert waren. Jmmer
deutlicher zwang eine verborgene welthistorische Sendung das Abendland zur äußer-
sten Entwicklung seiner zivilisatorischen Methoden. Jmmer tiefer zog sich der Orient
in die Unberührbarkeit seines Geistes zurück. Und doch mußte es schließlich einmal zu
eincr AuSeinandersetzung zwischen diesen beiden Welten kommen. Der Kampf zwi-
schen dem europäischen Annexionsdrang und der orientalischen Seele hatte sich bisher
gewissermaßen auf einem Nebenschauplatz dieser östlichen Seele zugetragen, rührte
nicht an ihr Eigentlichcs. Aber schließlich mußte sich diese Seele doch eimnal
rühren, schließlich mußten die Gewaltmethoden des Westens diese Seele cin-
mal zum Reagieren bringen. Unsere ätzenden Gifte fraßen sich zu ticf in
die orientalischen Völkcr cin. Einmal mußke der Orient gegen uns aufstehen.
Gandhi, der Führer Jndiens, ja für Jndien eine Gestalt, wie sie Christus für das
Abendland geworden ist, rief als erster die besonderen Kräfke der indischen Seele
gegen England auf. Dieser Kampf, der seit 1921 die schärfsten Formen annahm,

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